Aus aktuellem Anlass: Über den Zustand der Bibliotheken und anderer Kultureinrichtungen in Haiti

Obwohl bereits auf der Webseite der IFLA und per E-mail (Swiss-Lib) durch Madame Danielle Mincio (IFLA Governing Board representative on the Preservation and Conservation)  über die Situation der Bibliotheken in Haiti berichtet wurde, soll dieser Blogbeitrag ausführlicher Auskunft über die Ausmaße der Zerstörung nicht nur bei  Bibliotheken geben, sondern auch bei anderen bedeutenden Kultur- und Bildungseinrichtungen des Landes. Für den Wiederaufbau von Bibliotheken zu spenden ist unter der folgenden Adresse (danielle.mincio[at]bcu.unil.ch) möglich und kann über Madame Mincio erfolgen. Mitglieder der IFLA können über die verbandseigene Stiftung( Stichting IFLA Foundation) spenden. Am 19.01.2010 wurde auf dem Midwinter Meeting der American Library Association (ALA) ein “Haiti Library Relief Fund” eingerichtet, um Geldspenden zu sammeln, die dem Wiederaufbau der Bibliotheken und Archive zugute kommen, welche durch das Erdbeben auf Haiti (12.01.) beschädigt und zerstört wurden.  Vor kurzem hat mich eine weitere Nachricht der Gruppenmoderatorin Brooke Wooldridge der Facebookseite der Carribean Digital Library erreicht, auf der täglich weitere aktuellere Informationen über die Bibliotheken und deren Zustand eingehen. Sie schrieb unter anderem, dass es jederzeit möglich ist sie (dloc[at]fiu.edu) auch im Hinblick auf die Planung konkreter Projekte vor Ort zu kontaktieren. Einer der wichtigsten Akteure bei der Wiederaufbauhilfe für kulturelle Einrichtungen ist die UNESCO. Haitit steht mit zwei Sehenswürdigkeiten auf der UNESCO-Weltkulturebeliste: dem National History Park mit dem Palast  Sans Souci und der Zitadelle in Ramiers. Sie stammen aus der Zeit der Unabhängigkeit Anfang des 19. Jahrhunderts. Außerdem zählt zum Weltkulturerbe Haitis das historische Zentrum der Stadt Jacmel. Viele Gebäude stammen aus dem späten 17. Jahrhundert und wurden im französischen Kolonialstil erbaut und einige Herrenhäuser dienten als Vorbild für das französische Viertel in New Orleans. Es ist nun Aufgabe der UNESCO die Ausmaße der Schäden abzuschätzen und deren Wiederherstellung so gut wie möglich zu koordinieren und durchzuführen.  Aus einem Artikel der New York Times geht hervor, dass ähnlich wie nach dem Irakkrieg große Gefahr in Verzug ist. Es gibt zahlreiche kulturelle Schätze in Museen (z.B. das Musée du Panthéon National Haïtien und das Musée d’art haïtien), Bibliotheken und Archiven, die gierigen Kunsträubern zum Opfer fallen könnten. Italienische und Französische Polizeispezialeinheiten sind seit kurzem dabei diese zu schützen. Laut Experten besteht Hoffnung für den Erhalt der Hauptsammlungen des Nationalmuseums. Auf die Frage warum der Bildhauer Patrick Vilaire nach dieser Katastrophe seine Aufmerksamkeit so sehr auf alte Bücher lenkte, antwortete er folgendes:

“The dead are dead, we know that. But if you don’t have the memory of the past, the rest of us can’t continue living.” (Die Toten sind tot, wir wissen das. Aber falls man nicht die Erinnerung an das Vergangene bewahrt, können die Überlebenden nicht weiterleben.)

Hier geht es auch um die Identität der Einwohner, die durch deren kulturelle Schätze zum  Ausdruck kommt. So wurde beispielsweise das Kunstzentrum in Jacmel (Centre D’Art de Jacmel) zerstört, das weit über die Landesgrenzen bekannt ist und deren Werke weltweit verkauft wurden.  In dieser Stadt befand sich auch eine vor wenigen Jahren gegründete Filmhochschule, sowie die Kunsthochschule Fosaj (gegründet: 2003).  In Port-au-Prince wurde zudem die Buchhandlung La Pléiade unweit des Präsidentenpalasts zerstört. Das Kulturzentrum der Hauptstadt la FOKAL und seine Bibliothek  Monique-Calixthe haben dem Erdbeben standgehalten. Eine der Organisationen, die sich weltweit für den Erhalt von Kultur einsetzt, ist die  Association of National Committees of the Blue Shield (ANCBS) mit Sitz in Den Haag, die den Menschen in Haitit helfen will, indem sie sich für deren kulturelles Erbe einsetzt.  Sobald die Situation stabiler wird, möchte Blue Shield Experten aus aller Welt ermöglichen ihre haitianischen Kollegen zu unterstützen, indem sie die Schäden des kulturellen Erbes abschätzt, die Restauration und den Wiederaufbau von Gebäuden unterstützt. Aus diesem Grunde sucht Blue Shield International ehrenamtliche Helfer wie etwa Archivare, Kuratoren, Restauratoren, Architekten und Bibliothekare. Über den folgenden Link kann eine Online-Registrierung erfolgen. Als nächstes will ich auf den Zustand einiger bedeutender Bibliotheksgebäude im Einzelnen eingehen. Aufgrund der Nachbeben und ständiger Veränderungen kann ich nicht zu 100% für Vollständigkeit und Aktualität garantieren:

  1. Die dreisprachige Schule und Bibliothek der Sirona Cares Stiftung in Grand Goave wurde komplett zerstört. Mit dem Unterricht kann frühestens im September / Oktober 2010 wieder begonnen werden. Die Vorsitzende der Organisation Books for Young People, Jocelyne Trouillot machte keinen Hehl daraus, dass unter den Schul- und Universitätsgebäuden tausende von Schülern und Studenten liegen und die überlebenden Kinder und Jugendlichen nur durch psychologische Hilfe und eine Bibliotherapy “geheilt” werden können.
  2. Die Nationalbibliothek Haitis überstand das Erdbeben unbeschadet wie aus einer am 15. Januar gesendeten E-mail der Generaldirektorin Madame Françoise Beaulieu-Thybule hervorgeht.
  3. Die Bibliothek des pères du Saint-Esprit im Saint Martial College, welche Manuskripte des 17.- und 19. Jahrhunderts besitzt und die älteste des Landes ist, sackte in sich zusammen, wie es Patrick Tardieu, ein Verantwortlicher der Bibliothek in Port-au-Prince ausdrückte. Berichten zufolge wird der Bestand ausgelagert werden, wozu finanzielle Hilfe nötig ist. Vor kurzem startete die John Carter Brown Library und  die in Montreal ansäßige OrganisationLibraries without Borders (LWB) eine Fundraisingkampagne für die Bibliotheken in Haiti.
  4. Entgegen aller Behauptungen (siehe Youtube-Video) ist die  Bibliothèque haïtienne des Frères de l’Instruction Chrétienne / Saint Louis de Gonzague nicht eingestürzt. Brooke Woolridge machte auf Facebook (am 27.01.) und der Webseite der Digital Library of the Caribbean eindeutig klar, dass es sich dabei um eine Falschmeldung handelte, die über die Webseite der IFLA am 22.01. verbreitet wurde, wo ein Verweis auf das Blog un peti cabanon erfolgte. Der Autor des Blogs behauptete am 20.01., dass die Bibliothek eingestürzt sei. Die Bibliothek befindet sich aber auf der anderen Seite der Kirche. In dem untenstehenden Video, das von der haitianischen Zeitung Le Nouveliste gedreht wurde,  ist der Leiter der Bibliothek Pater Ernest zu sehen, wie er von einem Journalisten interviewt wird. Dabei wird in keinem Satz erwähnt, dass die Bibliothek eingestürzt ist. Auf die Frage des Journalisten eine erste Bilanz der Zerstörungen zu geben, weigerte sich Pater Ernest anfangs dies zu tun. Dennoch geht er auf den Tag des Erdbebens ein und auf weitere Fragen. Hierzu gibt es noch ein zweites Video, das meiner Ansicht noch weniger informativ ist. Brooke Wooldridge hat mit Pater Ernest telefoniert, wie ihre Aussagen vom 27.01. auf Facebook deutlich machen: “I just spoke with Freres Ernest (Saint Louis). He sounded great and had wonderful news. The library there is absolutely fine – the foundation, the roof, the columns, the COLLECTION. The shelves were turned over and the covering on the walls has fallen (stucco, I think).”
  5. Nahezu alle Universitätsbibliotheken sind eingestürzt. Die bedeutende Hochschule Quisqueya und ihre Bibliothek werden seit kurzem von der Stiftung Maison des Sciences de l’Homme (mit Sitz in Paris) und dem französischen Außenministerium finanziell unterstützt.
  6. Die meisten Spezialbeständer öffentlicher Bibliotheken sind schwer beschädigt worden.

Die nächste Generalversammlung der Organisation Bibliothèques Sans Frontières widmet sich am 18. Februar  der Frage welche Aufgaben in den kommenden Monaten für die Situation der Bibliotheken dort in Angriff genommen werden müssen.  Spenden an Bibliothèques Sans Frontières werden erstens für die Digitalisierung und Wiederherstellung der Manuskripte und Archivalien und zweitens für den Wiederaufbau der Infrastruktur von Bildungsinstitutionen und Bibliotheken verwendet. In einem dritten Schritt können Buchspenden abgegeben werden um die dezimierten Bibliotheksbestände wiederaufzubauen. Besonders gefragt sind französischsprachige Bücher für die Bestand der Universitätsbibliothek der folgenden Sachgebieten: Literaturwissenschaften, Agrarwissenschaften, Sprchwissenschften, Zahnheilkunde, Medizin, Psychologie, Geschichte, Geographie, Soziologie, Philosophie, Physik, Mathematik and Informatik. Mamadou Bah, ein Mitarbeiter der UNO und früherer Sprecher der MINUSTAH (Mission des Nations Unies pour la stabilisation en Haïti), hatte gute Absichten als er mit vielen Büchern nach Haiti reiste und einer Kooperation zwischen Bibliothèques Sans Frontières und MINUSTAH anstrebte. Er verteilte diese  in Haftanstalten, wo er Gefängnisbibliotheken aufbauen wollte. Leider kam er – wie so viele andere – beim Erdbeben ums Leben.

Die große Solidaritätswelle der ehemaligen Kolonisatoren bei der Entwicklungshilfe und dem Wiederaufbau des Landes ist keinesfalls verwundernswert, da es zudem noch um machtpolitische Interessen in der Region geht. Ein weiterer Akteur, der in den letzten Jahren hinzukam, ist Brasilien. Frankreich war auch eines der ersten Länder, das unmittelbar nach der Katastrophe ohne Abstimmung mit anderen EU-Ländern einen sofortigen Schuldenerlass in Gang setzte und die Abschiebung haitianischer Flüchtlinge  zurückzog. Abschließend will ich den haitianisch-kanadischen Schriftsteller Dany Laférière zitieren, der sich zu dieser Naturkatastrophe folgendermaßen äußerte:

« Quand tout tombe, il reste la culture. Et la culture, c’est la seule chose que Haïti a produite. Ça va rester. Ce n’est pas une catastrophe qui va empêcher Haïti d’avancer sur le chemin de la culture [..]» (Wenn alles zusammenfällt, bleibt die Kultur. Und die Kultur ist das Einzige, was Haiti produziert hat. Sie wird bleiben. Dies ist keine Katastrophe, die Haiti daran hindern wird auf dem Weg der Kultur voranzukommen […].)