Was heißt soziale Nachhaltigkeit für eine gerechte Stadtbibliotheksentwicklung? Ein Plädoyer für eine Stärkung der sozialen Kohäsion

 “Unter dem Gesichtspunkt sozialer Brauchbarkeit sind die wachsende Armut, die Bildung neuer Unterschichten und die zunehmende Wohnungsnot
in den gegenwärtigen Städten der Bundesrepublik kontraproduktiv für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Nachhaltigkeit setzt Verteilungsgerechtigkeit
voraus, weil nur dann der schonende Umgang mit den begrenzten Ressourcen gewährleistet, und gleichzeitig die Voraussetzungen für eine Maximierung des schöpferischen Potenzials der Stadtbewohnerschaft gelegt sind.“ Werner Nohl

Der Begriff der Nachhaltigkeit verkommt in gegenwärtigen Diskursen immer mehr zu einer leeren Worthülse und wird häufiger im ökonomischen Kontext verwendet bzw. instrumentalisiert, als im sozialen Bereich. Doch wie reagieren die Städte und Landkreise, um einer steigenden Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken, welche unter anderem durch eine soziale Entmischung gekennzeichnet ist? Wie nachhaltig handeln Kommunen und deren Kultureinrichtungen wie z.B. (öffentliche) Bibliotheken im Sinne einer gerechten Stadtentwicklungspolitik? “Wo bleibt eigentlich in Deutschland die produktive Unruhe für eine neue Kultur der Anerkennung?” fragte der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer am 3.6.2012 am Ende eines Interviews mit der Berliner Zeitung. Die Antwort blieb und bleibt offen. Wie  kann die soziale Kohäsion in den Kommunen hergestellt werden und welche Rolle können Bibliotheken als soziokulturelle Einrichtungen dabei einnehmen?

2011 wurde durch einen Blogger und Kreativkopf des Vereins Nachhaltigskeitsguerilla e.V., Maik Eimertenbrink, Obdachlose in Berlin nach ihren BildungsInteressen befragt. Die Antworten hierzu ähnelten dem Bestandsangebot öffentlicher Bibliotheken und erweckten den Eindruck einer Nutzungsanalyse, wie ich sie als Student an einer Unibibliothek durchführte. Der Titel hätte auch “Was Obdachlose an Bibliotheksbeständen interessieren könnte”, lauten können. Bislang fehlt so etwas im deutschen Bibliothekswesen, das sich offenbar nur an bestimmten “Zielgruppen” orientiert, insbesondere an den Mittelschichten und denjenigen, welche nicht am Rande der Gesellschaft stehen.

“Computer- und Sprachkurse, Geschichte, Technik, Musik, Sport, Naturwissenschaften, Philosophie und Handwerk – das Interesse Berliner Obdachloser an Bildung ist groß. Dabei will der „gemeine Obdachlose“ nicht nur Bildung konsumieren, sondern auch seinen Teil dazu beitragen und selbst gern einmal „Professor“ sein. Einerseits besteht großes Interesse, dem „Neuen“ auf der Straße zu zeigen, wie er sich auf der Straße zurecht findet und, viel wichtiger, wie er möglichst wieder runterkommt“! Andererseits haben viele Obdachlose auch Interesse über allgemeine Themen wie Musik und Schach, aber auch über Theater und Geschichte zu dozieren. Fragen, seitens der Obdachlosen, wie „Wann könnte es frühestens losgehen?“ lassen darauf schließen, dass Interesse auf einen baldigen Start besteht.”

Seit kurzem gibt es in Berlin nun die Obdachlosen-Uni, die ein einzigartiges und noch junges Bildungs- und Partizipationsprojekt für Obdachlose ist. Es finden in verschiedenen soziokulturellen Zentren allen voran in Obdachloseneinrichtungen Kurse statt, die in ganz Berlin verteilt sind u.a. Internet- und Computerkurse. Die Zahl der Wohnungslosen steigt stetig – nicht nur in Berlin der Obdachlosenhauptstadt Deutschland mit etwa 11.000 Obdachlosen. Andere Schätzungen, die vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit und aus dem Reichtums- und Armutsbericht der Bundesregierung stammen, gehen nämlich von 300.000 Obdachlosen in Deutschland aus. Hierzu gibt es keine glaubwürdigen Statistiken wie bei Arbeitssuchenden oder Millionären. Gründe dafür sieht die BAG bei steigenden Mietpreisen, dem Rückgang von sozialem Wohnraum und der Verarmung unterer Einkommensgruppen. Ein weiterer Faktor seien die hohen Zahlen an Langzeitarbeitslosen und das Anwachsen des Niedriglohnsektors. Ihre Prognose: Anstieg der Wohnungslosigkeit um weitere zehn bis 15 Prozent bis 2015.

Mithilfe ehrenamtlicher Mitarbeiter bietet die Obdachlosen-Uni Angebote zu folgenden Themen an, wobei die Dozenten oftmals Akademiker sind, welche an Unis und Forschungsinstituten tätig waren bzw. sind:

“Von Computerkurse über Geschichte, Philosophie, Schreibwerkstatt, Psychologie der Werbung, Ägypten, Überleben auf der Strasse, Persönlichkeitsentwicklung, Deutsch, Schach, Campingkochen, Geschirrherstellung aus Ton, Alkoholkrankheit und Depression, Keramik und Blumengestecke, die Geschichte der Lüge, Englisch und Französisch, bis hin zu Bewegungs- und Bewerbungstraining sowie Motivationstechniken.Die Dozentinnen und Dozenten sind teilweise ehemalige Dozenten von der Universität der Künste, eine Dozentin von der Humboldt-Universität ist vertreten, ein Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts, der Leiter des Instituts für Sozialwissenschaften und Partizipation, sowie Bewohnerinnen und Bewohner von Wohnungsloseneinrichtungen, Studentinnen und Studenten, Berufstätige und, naja, einfach Engagierte!”

Wenn Stadtteilbibliotheken in Berlin und in anderen Städten mehr die Zusammenarbeit mit diesen Unis bzw. “Volkshochschulen” und anderen soziokulturellen Einrichtungen für Obdachlose bereit wären einzugehen, würde dies Synergieeffekte ermöglichen.

Der folgende Kurzfilm stammt von Tomas Koolhaas, dem Sohn des Stararchitekten Rem Koolhaas. Von letzterem Koolhaas stammt die beeindruckende Architektur der 2004 erbauten Seattle Public Library. In den USA ist es seit etwa 2 Jahren weit verbreiterer, dass zum Beispiel die Stadtbibliothek San Francisco einen Sozialarbeiter beschäftigt, der sich um die Sorgen, Nöte und Probleme von Obdachlosen kümmert. Ebenso wurde in diesem Blog mehrmals über das Thema Obdachlosigkeit und Bibliotheksarbeit berichtet.

Haferklee verwies 2010 auf eine Diplomarbeit von von Carolin Schneider aus dem Jahr 2006: “Bibliothekarische Angebote für Obdachlose in England : mit einem Vergleich zur bibliothekarischen Praxis in Deutschland“. Doch leider ist diese Arbeit nicht online zugänglich. Welche Angebote bieten Bibliotheken hierzulande? Mir sind keine bekannt.

2 Kommentare

  • Die Stadtbibliothek KÖB Georgsmarienhütte, eine Kleinstadt vor den Toren Osnabrücks, verwaltet wie eine Rezeption die im gleichen Gebäude wie sie untergebrachte Unterkunft für Wohnungslose. Sie ist Ansprechpartner für Durchreisende, benachrichtigt einen ehrenamtlichen Reinigungsdienst am Abreisetag und nimmt die Anmeldung entgegen. Sie wird in der Osnabrücker Obdachlosenzeitschrift in der festen Rubrik unter Hilfseinrichtung genannt. Sie bekommt diesen Dienst nicht vergütet, sondern ist als Teil der Kirchengemeinde in diesen sozialen Dienst eingebunden. Vieles sind Stammgäste und sie halten sich normal in der Bibliothek zu den Öffnungszeiten auf – lesen Zeitung oder trinken eine Tasse Kaffee.

    • Wolfgang Kaiser

      Vielen Dank für diesen Hinweis. Die wertvolle Arbeit, welche Sie leisten, wird in bibliothekarischen Fachzeitschriften und sonstigen Medien viel zu selten gewürdigt. Der soziale Mehrwert und die soziale Nachhaltigkeit von Bibliotheken wie der Ihren lassen sich nicht so einfach ökonomisch messen. Bibliotheksarbeit, gerade in Stadt(-teil)bibliotheken alleine auf den ROI (Return on investment) und/oder irgendwelcher Ausleihstatistiken zu reduzieren, würde ihr nicht gerecht werden. Innovationspreise, welche in der hiesigen Bibliothekslandschaft vergeben werden, sind oft sehr auf Technologien, Maketing und betriebswirtschaftliche Aspekte ausgerichtet. Die Arbeit von öff. Bibliotheken, welche die Teilhabe von Menschen, welche von Exklusion, Ausgrenzung und Armut betroffen sind, zu verbessern helfen, müßten ebenso in Form von Preisen, einem Mehr an Aufmerksamkeit in den Medien und in Form von finanziellen Förderungen (durch gemeinnützige Stiftungen und komm. Trägern) gewürdigt werden. Es sollten auch Menschen aus sozialen Berufen (KindergärtnerInnen, LehrerInnen und Krankenpfleger) und sozialen Studiengängen (Soziale Arbeit, Sozialpädagogik usw.), die Möglichkeit haben als Quereinsteiger oder Masterstudent die Möglichkeit zu erhalten als Bibliothekar/-in tätig zu werden. Vor einigen Jahren noch, konnte man im Diplom-Studiengang Bibliothekswesen vermeintliche fachfremde Nebenfächer im Hauptstudium wählen (z.B. Kulturarbeit und/soziale Arbeit). Die meisten Masterstudiengänge, welche künftige BibliothekarInnen ausbilden sind konsekutiv angelegt und sorgen dafür, dass QuereinsteigerInnen kaum die Chance haben diesen Beruf zu ergreifen, wenn sie nicht extra ein Bachelorstudium absolvieren.Leider bleiben die meisten dieses Berufsstands aufgrund dieser Änderungen meist unter Ihresgleichen. Dabei könnte es nicht schaden mehr Impulse, Ideen und Erfahrungshintergründe von vermeintliche fachfremden QuereinsteigerInnen zu erhalten, um die soziale Komponente dieses Berufs stärker als bisher als weiteres Merkmal dieser Profession hervorzuheben und auch im Lehrplan des Studiums/der Ausbildung zu würdigen. An einer mir bekannten Uni gibt es im Studiengang Soziologie das Seminar “die Soziologie der helfenden Berufe” (http://www.ku.de/fileadmin/140503/Helfende_Berufe.pdf). MitarbeiterInnen in Bibliotheken leisten auch wenn es nicht deren alleinige Hauptaufgabe ist, ebenso Hilfe für Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen, wie das Beispiel Ihrer Bibliothek zeigt. Nach einer gestrigen Diskussion mit Jungarchitekten in meinem Alter, wurde mir dies wieder bewußt, dass Veranstaltungen wie die “Stadt der Ströme” (http://www.stadt-der-stroeme.de/), welche den interdisziplinären Austausch zum Ziel haben, leider viel zu selten sind, damit wir alle “gelegentlich” mal mehr über den eigenen Tellerrand blicken und neue und unkonventionellere Wege/Partnerschaften (ein-)gehen.