[Adventskalender] 11.12.2019 – Ad. Bl.

New York City Hall Park – Ivailo Dochkov aus Lennoxille, Canada [CC BY 2.0] via Wikimedia Commons

Ein Weihnachtsbild

(Aus dem Leben.)
Der Abend war herabgesunken; die große Stadt hatte ihre tausend Lichter angezündet und strahlte in hellem Glanze.

Wie die Menge geschäftig durch einander wogte! Wie eilig sie es hatten, die winterlich gekleideten Leute auf allen Gassen! Es war ja Weihnachtsabend; die Liebe regierte; die Freude flog von Haus zu Haus; sie küßte die kleinen und großen Menschenkinder – und auf allen Wangen blühten ihre Rosen.

Ein hoher ernster Mann tritt in eine glänzende Passage. Sein Fuß stößt an; er bückt sich; da, etwas in das Dunkel gerückt, sitzt auf einem Schemel ein altes Mütterchen; sie streckt ihm bittend die welke Hand entgegen. Was spricht zu ihm aus diesem milden todesbleichen Angesicht? Nur langsam schreitet er weiter; mit unwiderstehlicher Gewalt zwingt es ihn, sich umzusehen. Und seltsam, die Alte beugt sich weit vor und winkt ihm lächelnd zu. Er schreitet weiter, weiter – verloren in das bunte gestaltenreiche Weihnachtsgedränge.

Weihnacht! – welch ein Zauber in dem einen Wort! Die Gegenwart versinkt ihm; die Vergangenheit öffnet ihr Grab, und mit unabweisbarer Gewalt drängt sich die Erinnerung an längst Vergessenes ihm auf.

War das eine glückliche Jugend!

Er war der einzige Sohn liebevoller Eltern; der Vater starb früh, [859] und der Mutter Herz schlug von da an nur für ihn. O, er wußte es wohl, und heute stand es wieder lebhaft vor seiner Seele: sie liebte ihn über Alles – sie liebte ihn wohl nur zu sehr. Und wie die Mutter, so hatten ihn Alle lieb, die ihn sahen, die auf der Lebensbahn eine Weile neben ihm hingingen. Und nun, nachdem so lange Jahre vergangen, nun in der festlichen Stimmung des Weihnachtsabends sah er im Geiste sein eigenes Bild aus jenen Tagen sonnigen Jugendglückes vor sich: die schlanke, elastische Gestalt, an der jedes Glied, jede Bewegung von selbstgewisser Kraft und thatenfreudiger Männlichkeit sprach, die helle und doch so kräftige Stimme, die ihm jedes Herz gewann, die hohe Stirn, die ein Wald von dunklen Locken umrahmte, und auf dieser Stirn ein Zug – „ein Zug stolzen Trotzes“, sagte die Welt. Aber es war mehr gewesen als Trotz, was auf dieser Stirn stand und das Schicksal seines Lebens geworden – heute verhehlte er es sich nicht mehr: ein brennender Durst war es gewesen, groß zu sein in der Welt und ihre Schätze zu gewinnen – Genußsucht, Eitelkeit, Ehrgeiz.

Das Leben lag vor ihm, so schön geschmückt; er vor Allen war geladen, an der reichbesetzten Tafel Platz zu nehmen, und mit rücksichtsloser Begehrlichkeit durchbrach er die Schranken der gegebenen Verhältnisse.

So hatte er in seiner Heimath eine zeitlang hingelebt – neben der Mutter, die ihn mit Entzücken geistig und körperlich wachsen und reifen sah. Mit ahnender Mutterliebe blickte sie in die Zukunft und schloß die Augen, geblendet von den glänzenden Bildern, die sich ihr im Leben des geliebten Sohnes enthüllten. Konnte sie ihm versagen, was er auch immer verlangt? Unmöglich! Und was er verlangte, das war viel, unendlich viel – Alles.

Und dann kam ein Tag – er zog hinaus in die Welt, die ihn so unwiderstehlich lockte, und ließ die Mutter zurück, hülflos und verlassen, arm und gebeugt von der Jahre Last.

Ihm aber blieb jenseits des Oceans das Glück getreu. Sein Blick hing unverwandt an den schönen Augen jener Göttin, die nicht nach Recht und Gerechtigkeit, nur nach Gunst und Laune ihre Gaben spendet, und die Erinnerung an die Heimath, an die Mutter starb allmählich. –

Seine persönlichen Vorzüge und Talente bahnten ihm überall den Weg, und schnell gelang es ihm, eine glänzende Stellung zu erringen. Genießen, in vollen Zügen genießen, das hieß bei ihm leben, und im grenzenlosen Leichtsinn verpflichtete er sich auf lange Jahre hinaus, nicht nach Europa zurückzukehren. Wohl zog zuweilen durch seine Träume die Erinnerung an die Heimath und rührte sein Herz durch die Erscheinung seiner Mutter, deren Antlitz ihm so bleich und traurig entgegenblickte. Wenn er aber erwachte aus den Träumen, dann lachte ihm die ewig junge, schöne Göttin alle düsteren Gedanken hinweg, und sein Gewissen beruhigte er mit dem festen Vorsatz, „einst“ Alles wieder gut zu machen.

Die Jahre schwanden, und längst war er zum Manne gereift. Aber wie das Leben uns auch packen und werfen, umschmeicheln und liebkosen mag, ganz kann sie doch niemals sterben, die Erinnerung an das süße Ehedem der Kindheit.

Als sich der erste Silberstreif in seinen dunklen Locken zeigte, ergriff ihn ein tiefes Weh; ein ungestümes Verlangen nach Glück trieb ihn hinaus in die Welt; ein stilles, heimliches Sehnen nach einem unsagbaren Etwas hieß ihn – heimwärts ziehn.

Da war er wieder in der Heimath, reuig und liebend die Mutter suchend, die ihn so unendlich geliebt, aber seiner Reue war der Friede versagt. Die alte Frau hatte lange, lange auf ihn gewartet – umsonst! Heute hatte er an der Mutter Grab gestanden.

Und wie er nun durch die menschenbelebten Gassen schreitet, da legt sich das bittere Gefühl der Schuld ihm schwer auf’s Herz. Fort aus diesen vom festlichen Licht der Weihnacht bestrahlten Märkten und Plätzen! Ihm blüht keine Freude.

Er will entfliehen – wohin, wohin? Wer wandelt da plötzlich an seiner Seite? Wer nickt ihm so mild lächelnd zu? Seltsam, da ist sie wieder, die alte Frau. Schweigend gehen sie neben einander hinaus in einsame abgelegene Gassen. Er ist wie in ihrem Bann.

„Wo geht Ihr hin?“ fragt er endlich.

„Nach Hause,“ antwortet sie.

„Wen habt Ihr dort?“

„Niemand!“

„Und wen erwartet Ihr?“

„Mein einziges Kind, meinen Sohn.“

„Und wenn er nicht kommt?“

„Er kommt!“ antwortet sie, und ein überirdischer Glanz blitzt in ihren Augen.

Sie traten in ein altes Haus, und der vornehme Mann, in den seinen Pelz gehüllt, folgt der Alten die schmale Stiege hinauf. Er fühlt: er muß. Sie treten ein in ein kleines Gemach; die Alte zündet ein Licht an. Er blickt um sich wie im Traume; auf dem Tisch steht ein Tannenbaum und darunter liegt die Bibel. Bald brennen die Kerzen; die Beiden sitzen sich gegenüber.

„Wie viele, viele Jahre warte ich nun schon auf ihn; heute, am heiligen Christabend, muß er doch endlich kommen, und ich darf nicht sterben, ehe ich ihn gesegnet.“

Wie schwer die Worte auf sein Herz fielen! „Und warum ging er von Euch?“ fragte er.

„Er war so schön und so klug; er brauchte Geld, viel Geld, und ich hatte keins mehr. Da zog er hinaus in die Welt. Gold wollte er erringen; auch für mich wollte er es; auch mich wollte er reich und glücklich sehen. Und als er fort war, da wurde es Nacht um mich her. – Das Elend zog bei mir ein, und die Krankheit warf mich auf’s Lager, meine Liebe aber war stärker als sie – ich muß leben, bis diese Hand auf seinem Haupte geruht.“

Er stöhnte laut auf.

„Mutter, denke, ich bin Dein Sohn! Siehe hier ist Gold, viel Gold; Alles ist Dein; segne mich!“ – Da lag es nun auf dem kleinen Tisch, das verführerische Metall, nach dem die Menschen so rastlos jagen und das noch keinen beglückt. Wie das funkelte und blitzte! Wie es lachte, das schöne Gold – umsonst; hier hat es seine Macht verloren; es ist todt. Lächelnd schiebt die alte Frau es zurück; sie winkt ihm: „Komm’, mein Sohn!“

Und der starke Mann kniet und beugt das Haupt tief herab. Ihre welke Hand streicht leise über sein volles Haar. Ein Zittern durchfliegt seinen Körper.

„Meine Liebe und mein Segen folgen Dir – gehe hin in Frieden!“

Die alte Frau lehnt sich in den Stuhl zurück; er erhebt sich. Seine Augen werden feucht, und ein heißer Thränenstrom wäscht alle Schuld von seiner Seele. Er fühlt sich frei werden, und ein nie gekanntes himmlisches Gefühl schwellt seine Brust. Das Glück konnte ihm die Welt, die ihm so viel, die ihm Alles gab, doch nicht geben; aus der Hand der Bettlerin sollte er es empfangen, das höchste Glück, die Ruhe seines Herzens, den Frieden seiner Seele.

Die Lichter sind verlöscht; der Mond und die Sterne scheinen in das Gemach; ihr bleiches Licht zittert in den dunklen Tannenzweigen. Von ferne tönt Gesang: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!“

Wie Himmelsklänge dringt das Lied in seine Seele.

Er tritt an das kleine Fenster, und sein Blick verliert sich in das Sternenmeer. Seine Seele hebt ihre Flügel und strebt dem Unendlichen entgegen. – Er blickt um sich; stolz hebt er das Haupt; er breitet die Arme aus; er ist so unaussprechlich reich und glücklich.

Ist denn Niemand da, mit dem er sein Glück theilen kann?

„Mutter!“ ruft er leise.

Schläft sie?

„Mutter,“ ruft er noch einmal und erfaßt ihre Hand. Sie ist kalt – die alte Frau ist todt. Da wird es klar in seiner Seele: bis über das Grab folgte ihm die Liebe seiner Mutter; in der Gestalt der alten Frau war sie ihm erschienen, um ihm das zu geben, was er überall umsonst gesucht. – – –

Und draußen auf dem Friedhof, da ruhen sie neben einander, die beiden Mütter; eine Linde streut ihre Blüthen auf die Hügel; in ihren Zweigen singt eine Nachtigall das alte, ewig junge Lied von Glück und Liebe. Und der ernste Mann, der an des Baumes Stamme lehnt, versteht das Lied.

Bald erscheint er nicht mehr allein; sie begleitet ihn – sein junges Weib. Am Weihnachtsabend aber da kommt er allein; in Schnee und Eis gehüllt ist die Natur, und der kalte Nord tobt in den Aesten der alten Linde. Das Herz des ernsten Mannes, der gedankenvoll an den Gräbern steht, schlägt warm, und voll heißen Dankes gedenkt er jener Stunde, da er den Frieden, da er sich selbst gefunden.

Ad. Bl.

Original-Scan: Die Gartenlaube [1879], S. 858, S. 859 bei Wikimedia Commons

Quelle

Ad. Bl. : Ein Weihnachtsbild. – aus: Die Gartenlaube, 1879, Heft 51, S. 858-859, entn. Ein Weihnachtsbild, Wikisource

[Adventskalender] 10.12.2019 – Guy de Maupassant

Henry René Albert Guy de Maupassant (* 5. August 1850 auf Schloss Miromesnil in Tourville-sur-Arques, Normandie; † 6. Juli 1893 in Passy, Paris) gemeinfrei seit 1964.

https://youtu.be/C9RDQi-RbVA

Zum Nachlesen im Gutenbergprojekt in der Übersetzung von Georg von Ompteda.

[Adventskalender] 09.12.2019 – Ludwig Thoma

Ludwig Thoma (* 21. Januar 1867 in Oberammergau; † 26. August 1921 in Tegernsee) gemeinfrei sei 1992.

Erleben eigentlich Stadtkinder Weihnachtsfreuden?

Ludwig Thoma von Karl Klimsch, 1902 via Wikimedia Commons

Erleben eigentlich Stadtkinder Weihnachtsfreuden? Erlebt man sie heute noch?

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Ich will es allen wünschen, aber ich kann nicht

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glauben, daß das Fest in den engen Gassen der Stadt, in der wochenlang die Ausstellungen der Spielwarenhändler die Freude vorwegnehmen, Vergleiche veranlassen oder schmerzliche Verzichte zum Bewußtsein bringen, das sein kann, was es uns Kindern im Walde gewesen ist.

Der erste Schnee erregte schon liebliche Ahnungen, die bald verstärkt wurden, wenn es im Haus nach Pfeffernüssen, Makronen und Kaffeekuchen zu riechen begann, wenn am langen Tische der Herr Oberförster und seine Jäger mit den Marzipanmodeln ganz zahme, häusliche Dienste verrichteten, wenn an den langen Abenden sich das wohlige Gefühl der Zusammengehörigkeit auf dieser Insel, die Tag um Tag stiller wurde, verbreitete.

In der Stadt kam das Christkind nur einmal, aber in der Riß wurde es schon Wochen vorher im Walde gesehen; bald kam der, bald jener Jagdgehilfe mit der Meldung herein, daß er es auf der Jachenauer Seite oder hinterm Ochsensitzer habe fliegen sehen.

In klaren Nächten mußte man bloß vor die Türe gehen, dann hörte man vom Walde herüber ein feines Klingeln und sah in den Büschen ein Licht aufblitzen. Da röteten sich die Backen vor Aufregung, und die Augen blitzten vor freudiger Erwartung. Je näher aber der heilige Abend kam, desto näher kam auch das Christkind ans Haus, ein Licht huschte an den Fenstern des Schlafzimmers vorüber, und es klang wie von leise gerüttelten Schlittenschellen.

Da setzten wir uns in den Betten auf und schauten sehnsüchtig ins Dunkel hinaus; die großen Kinder aber, die unten standen und auf einer Stange Lichter befestigt hatten, der Jagdgehilfe Bauer und sein Oberförster, freuten sich kaum weniger.

Es gab natürlich in den kleinen Verhältnissen kein Übermaß an Geschenken, aber was gegeben wurde, war mit aufmerksamer Beachtung eines Wunsches gewählt und erregte Freude.

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Als meine Mutter an einem Morgen nach der Bescherung in das Zimmer eintrat, wo der Christbaum stand, sah sie mich stolz mit meinem Säbel herumspazieren, aber ebenso froh bewegt schritt mein Vater im Hemde auf und ab und hatte den neuen Werderstutzen umgehängt, den ihm das Christkind gebracht hatte.

Wenn der Weg offen war, fuhren meine Eltern nach den Feiertagen auf kurze Zeit zu den Verwandten nach Ammergau.

Ich mag an die fünf Jahre gewesen sein, als ich zum ersten Male mitkommen durfte; und wie der Schlitten die Höhe oberhalb Wallgau erreichte, von wo aus sich der Blick auf das Dorf öffnet, war ich außer mir vor Erstaunen über die vielen Häuser, die Dach an Dach nebeneinander standen.

Für mich hatte es bis dahin bloß drei Häuser in der Welt gegeben.

Quelle:

Thoma, Ludwig: Erleben eigentlich Stadtkinder Weihnachtsfreuden?, aus: Erinnerungen, in: Gesammelte Werke. Erster Band: Autobiographisches und ausgewählte Gedichte., München, Albert Langen, 1922, S. 33-35 – Auf: Wikisource

Auch zu finden unter “Christkindl-Ahnung im Advent

[Adventskalender] 08.12.2019 – Walter Benjamin

Walter Bendix Schoenflies Benjamin (* 15. Juli 1892 in Charlottenburg; † 26. September 1940 in Portbou) gemeinfrei seit 2011.

Ein Weihnachtsengel

Walter Benjamin von Wilhelm Niederastroth, viaWikimedia Commons

Mit den Tannenbäumen begann es. Eines Morgens, als wir zur Schule gingen, hafteten an den Straßenecken die grünen Siegel, die die Stadt wie ein großes Weihnachtspaket an hundert Ecken und Kanten zu sichern schienen. Dann barst sie eines schönen Tages dennoch, und Spielzeug, Nüsse, Stroh und Baumschmuck quollen aus ihrem Innern: der Weihnachtsmarkt. Mit ihnen aber quoll noch etwas anderes hervor: die Armut. Wie nämlich Aepfel und Nüsse mit ein wenig Schaumgold neben dem Marzipan sich auf dem Weihnachtsteller zeigen durften, so auch die armen Leute mit Lametta und bunten Kerzen in den besseren Vierteln. Die Reichen aber schickten ihre Kinder vor, um denen der Armen wollene Schäfchen abzukaufen oder Almosen auszuteilen, die sie selbst vor Scham nicht über ihre Hände brachten. Inzwischen stand bereits auf der Veranda der Baum, den meine Mutter insgeheim gekauft und über die Hintertreppe in die Wohnung hatte bringen lassen. Und wunderbarer als alles, was das Kerzenlicht ihm gab, war, wie das nahe Fest in seine Zweige mit jedem Tage dichter sich verspann. In den Höfen begannen die Leierkasten die letzte Frist mit Chorälen zu dehnen. Endlich war sie dennoch verstrichen und einer jener Tage wieder da, an deren frühesten ich mich hier erinnere.

In meinem Zimmer wartete ich, bis es sechs werden wollte. Kein Fest des späteren Lebens kennt diese Stunde, die wie ein Pfeil im Herzen des Tages zittert. Es war schon dunkel; trotzdem entzündete ich nicht die Lampe, um den Blick nicht von den Fenstern überm Hof zu wenden, hinter denen nun die ersten Kerzen zu sehen waren. Es war von allen Augenblicken, die das Dasein des Weihnachtsbaumes hat, der bänglichste, in dem er Nadeln und Geäst dem Dunkel opfert, um nichts zu sein als nur ein unnahbares und doch nahes Sternbild im trüben Fenster einer Hinterwohnung. Doch wie ein solches Sternbild hin und wieder eins der verlassenen Fenster begnadete, indessen viele weiter dunkel blieben und andere noch trauriger im Gaslicht der früheren Abende verkümmerten, schien mir, daß diese weihnachtlichen Fenster die Einsamkeit, das Alter und das Darben – all das, wovon die armen Leute schwiegen – in sich faßten.

Dann fiel mir wieder die Bescherung ein, die meine Eltern eben rüsteten. Kaum aber hatte ich so schweren Herzens, wie nur die Nähe eines sichern Glücks es macht, mich von dem Fenster abgewandt, so spürte ich eine fremde Gegenwart im Raum. Es war nichts als ein Wind, so daß die Worte, die sich auf meinen Lippen bildeten, wie Falten waren, die ein träges Segel plötzlich vor einer frischen Brise wirft: „Alle Jahre wieder, kommt das Christuskind, auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind“ – mit diesen Worten hatte sich der Engel, der in ihnen begonnen hatte, sich zu bilden, auch verflüchtigt. Doch nicht mehr lange blieb ich im leeren Zimmer. Man rief mich in das gegenüberliegende, in dem der Baum nun in die Glorie eingegangen war, welche ihn mir entfremdete, bis er, des Untersatzes beraubt, im Schnee verschüttet oder im Regen glänzend, das Fest da endete, wo es ein Leierkasten begonnen hatte.

via: WikiSource

Ein Weihnachtsengel-Vossische Zeitung-1932

Quelle:

Walter Benjamin: Ein Weihnachtsengel. In: Das Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung, Nr. 357, vom 24. Dezember 1932, Seite 1; Online: Walter Benjamin [Public domain], via Wikimedia Commons, Wikisource

[Adventskalender] 07.12.2019 – Ernst Moritz Arndt

Ernst Moritz Arndt (* 26. Dezember 1769 in Groß Schoritz; † 29. Januar 1860 in Bonn), gemeinfrei seit 1931.

Weihnachtsfreude


Steh auf! die Sonn’ ist aufgegangen,
Es scheint das Licht der Herrlichkeit –
O Seele, klinge dein Verlangen,
Hell kling herein die neue Zeit!
Laß heut die frohe Kunde schallen
Weit übern Erdenball ringsum!
Erklinge, singe, künde allen
Der Menschheit Evangelium.

Dies ist das Licht, dies ist der Morgen,
Der Vorwelt dünner Dämmerschein,
Oft leuchtend auf und oft verborgen,
Nun scheint er hell zur Welt herein,
Das Liebesrätsel ew’ger Güte,
Der Frommen Hort, der Weisen Lust –
Der Sehnsucht süße Rosenblüthe
Erblüht nun voll in jeder Brust.

Drum sollst du, frohe Liebe, klingen,
Daß alle Welt in Wonne sey,
Mit allen Himmelschören singen:
Ihr dunkle Menschen eilt herbei!
O eilet euch im Licht zu baden!
Der Glanz des Himmels strahlt herein,
Und jeder Jammer, jeder Schaden
Der Nacht soll weggeleuchtet seyn!

Kommt alle, die ihr lieft verloren
In freudenvoller Finsterniß!
Denn Jesus Christus ist geboren,
Es scheint das lichte Heil gewiß.
O Liebesglanz! o Lebensmorgen!
O wunderbarer Gottesschein!
Weg Sünden, Schmerzen, Zweifel, Sorgen!
Denn Jesus Christ will unser seyn.

Quelle:

Arndt, Ernst Moritz : Gedichte, Leipzig : Weidmann, 1850; – In: Digitale Bibliothek Mecklenburg-Vorpommern, S. 257-258 (267-268)

[Adventskalender] 06.12.2019 – Wolfgang Borchert

Borchert, Wolfgang (* 20. Mai 1921 in Hamburg; † 20. November 1947 in Basel) gemeinfrei seit 2018.

Die drei dunklen Könige

beeindruckend vorgelesen von Dieter Mann

https://youtu.be/rSZdmaI2Tww

[Adventskalender] 05.12.2019 – Hans Watzlik

Watzlik, Hans (* 16. Dezember 1879 in Unterhaid, Österreich-Ungarn; † 24. November 1948 in Tremmelhausen) gemeinfrei seit 2019

Heilige Nacht

Hans Watzlik, via Wikimedia Commons

Sankt Josef nimmt den Stab zur Hand.
“Wir müssen fort ins fremde Land!”
Der Winter saust um Hof und Haus,
sie müssen in die Nacht hinaus.
Der alte Mann sagt:”Kalt is s’; huuu!”
Die Frau Maria weist die Kuh.
Sie stapfen bis zum Knie im Schnee.
Den Vater Josef friert die Zeh.
Die Sternlein still am Himmel stehn,
der Mond ist schon im Untergehn.
Die Welt ist groß, es schneit, es schneit.
Mein Gott, wie ist der Weg so weit!

Tief drin im dunklen Böhmerwald
ist ed vor Eis und Schnee gar kalt,
ein halbverfallner Stall dort steht.
Sankt Josef sagt:”Es ist schon spät.”
Er schürt ein lindes Feuerlein
und wärmt daran die Hände sein.
Und eh Maria sich besinnt,
da liegt vor ihr ein leuchtend Kind.
Vom Himmel her von Gott beschert,
das Kind liegt nackt auf bloßer Erd.
Sie fängt vor Freuden an zu schrein:
“Das ist mein kleines Jesulein!”

Das ganze Himmelreich wird wach,
ein Wunderstern scheint übers Dach.
Auf einem Silberleiterlein
steigen die Engel zur Welt herein
und geigen und singen Halleluja
und spielen die Mundharmonika,
und einer von dem himmlischen Pack,
der bläst sogar den Dudelsack.
Das Weihnachtskind gibt goldenen Schein,
und Vater und Mutter sind nimmer allein.

Der Vater zimmert schnell eine Wiegen,
das Kind soll wie ein Prinzlein liegen
Ach Gott, sie haben kein Linnen fein,
kein einziges Bettfederlein.
Die Mutter deckt das Kind zur Ruh
mit ihren gelben Haaren zu.
Die Kuh, sie haucht das Büblein dann
mit ihren warmen Atem an.
Und horch, der Kuckuck draußen schreit,
und ist doch harte Winterzeit.

Die Tiere treten aus dem Wald,
das Füchslein schlau, der Rabe alt,
die Spechte, schwarz und bunt und grün,
das feine weiße Hermelin,
der Hase hoppelt durch den Schnee,
scheu kommt heran das liebe Reh,
der Uhu und das Käuzchen grau,
die Eule ist die Schleierfrau,
bescheiden tritt die Maus hervor,
das Eichhorn spitzt das kluge Ohr,
der Dachs verlegen putzt den Bart,
ein winzig Vöglein zwitschert zart.
Der hohe Hirsch kniet fromm dabei,
trägt lauter Lichter am Geweih.

Jetzt tönt vom Dorf das Glöckel her,
so hell, als ob es Sonntag wär.
Die Hirten kommen froherschreckt,
ein Engel hat sie aufgeweckt,
“Grüß Gott, Herr Josef, Frau Marie!”
falln vor dem Kinde auf die Knie.
Die Bauernkinder stelln sich ein,
die Buben und die Mägdelein,
sie schauen ganz verwundert drein
auf das hellichte Jesulein.
Sie singen ihm:”Schlaf, Kindlein, Schlaf!”
und schenken ihm ein weißes Schaf
und Äpfel, Nüsse, Kletzenbrot,
sie schenken ihm ein Pelzlein rot,
zu schützen es vor Frostes Not.
Sie schenken einen Zappelmann,
auf dass es damit spielen kann.

Wer kommt daher im Sternenschein?
Die heiligen drei König reiten ein
mit Ross, Kamel und Elefant,
sie kommen aus dem Morgenland,
sind just ein und halbed Paar,
Kaspar, Melchior, Balthasar,
es brüllt das Kamel, das Rösslein schnaubt.
Sie tragen goldne Kronen am Haupt.
Der eine ist gar ein schwarzer Mohr.
Erschrick, o Jesus, nicht davor!
Sie bringen Weihrauch, bringen Gold,
sie bringen Myrrhen dem Kinde hold.

Die Königen reiten wieder fort,
der Stern bleibt an seinem Ort,
er bleibt mit seinem Himmelsschein
über dem armen Waldhäuslein.
Ganz still ist’s jetzt, das Kindlein
tut zu die Augen und schläft ein.
Sankt Josef schläft, Maria wacht.
Der Stern strahlt golden durch die Nacht.

Hoam!,1978, 12, in der Beilage Der Wanderstecken S. 45-46

Quelle: Watzlik, Hans – Kohoutikriz.org

[Adventskalender] 04.12.2019 – Johannes Rudolf Friedrich Gosselck

Johannes Rudolf Friedrich Gosselck (* 6. Juli 1881 in Stresendorf bei Parchim; † 6. Oktober 1948 in Rostock) gemeinfrei seit 2019.

Julklapp

Johannes Gosselck, Quelle: Bildersammlung Heimatmuseum Warnemünde, via Ortschroniken MV

“Julklapp!” rep Rike ehr lude Stimm, un en Packet flog in de Dör: “An die Frau Pastorin Behrens”, un ‘t was ‘ne hübsche Rutsch, un keiner Wüßt, wo se herkamm. Un “Julklapp!” gung ‘t wedder, un ‘t was ein niges, gesticktes Küssen för den Herrn Paster sinen Lehnstauhl, keiner haddt oewer dan – ach, wat würd hüt in den Pasterhus? lagen! – Un “Julklapp!” un ‘t lagg en Zettel in den Breiw, un de Zettel wieste up en annern Zettel, de lag haben up den Boehn, un de wedder up en annern, de lagg unnen in den Keller, un de wedder up en annern, un de wedder … und wenn de Fru Pasturin den hübschen, gestickten Kraggen hebben wull, de ehr bestimmt was, müßt se vörlöpig ‘ne Rundreis’ dörch ehr ganzes Hus antreden, bet se em toletzt ganz dichting bi in ehren eignen Paster sinen Stäwelschacht funn. – Un “Jullklapp!” – Ach, dat was ein grot Packet! “An den Herrn Pastor”, un as de Ümslag afräten hadd, dun was ‘t an de Fru Pasturin, un dunn was ‘t an Jürn, und dunn an Rike, un toletzt was ‘t an Lowise, un as, de dat letzte Papier runnereten hadd, dunn was ‘t en lütten Neihdisch, grad so ‘n Neihdisch, as Havermann mal vör lange Johren sine verstorbene Fru schenkt hadd. – Keiner wüßt ‘t, hei wüßt ‘t. – Un “Jullklapp!” – ‘ne gestickte Fautdeck för Hawermannen. – Rike let nich locker. Oewer nu was ‘t vörbi, Rike kamm rinne un fligte dat Packpoppier un den Bindfaden tausam, dunn gung de Dör noch einmal up un ‘ne helle klockenreine Stimm rep noch mal “Julklapp!” un as dat Packet beseihn würd, dunn was ‘ “An Gr. Hochwohlgebohren, den Herrn Franz von Rambow”, un dörch den Paster sin Stuwendör slek sick lising up de Zehen en Kind herinne, un ‘ne grote Freud strahlte em von ‘t Angesicht…”
So vertellt Fritz Reuter oewer dat Julklappsmiten an ‘n Hilligenchristabend in ‘n Pasterhus. tau Gürlitz (“Stromtid” I. Kapitel 7), un de Verklorung, de uns gäben war, de heet: “Julklapp heißt ein Wihnachtsgeschenk, welches von unbekannter Seite oder durch Dienstboten in die Stube geworfen oder vor der Tür niedergelegt wird. Das Geschenk ist oft vielfach verpackt, und jede Verpackung trägt eine verschiedene Adresse.”

[…]

Weiter bei:
Gosselck, Rudolf: Julklapp, In: Mecklenburgische Monatshefte. – Schwerin, 1925-1943. – Bd. 8.1932, 12, Seite 562-563; http://purl.lbmv.de/mvdok/ppn494254238

Disclaimer: Aufgrund der nicht besonders guten Qualität der Vorlage kann es bei der Übertragung der Fraktur zu Fehlern gekommen sein.

[Adventskalender] 03.12.2019 – Emmy Ball-Hennings

Ball-Hennings, Emmy (* 17. Januar 1885 in Flensburg; † 10. August 1948 in Sorengo bei Lugano) gemeinfrei seit 2019

DIE STILLE FEIER


Die stille Feier wacht in mir.
Ich bin ein Fest.
Fest aller Grazien, hauset hier
Restloser Rest?

Wie trat ich durch den Laubengang
Der Schönheit ein?
Geht Freiheit durch den Zauberzwang
Gelassensein?

Verlassensein, du einzig Loos,
Wo wohnest du?
Fall ich so nackt, fall ich so bloß
Dem Schatten zu?

Laß mich allein, o Einsamkeit.
Will fragen nicht.
O aller Seelen Himmelweit,
Du Lichtgedicht …

Quelle

Ball-Hennings, Emmy: Helle Nacht : Gedichte, Berlin : Reiss, 1922, S. 72; https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:31-107615 [Online-Ausgabe: Karlsruhe : Badische Landesbibliothek, 2019 unter CC BY-SA]

[Adventskalender] 02.12.2019 – Egon Erwin Kisch

Egon Erwin Kisch (29. April 1885 in Prag; gestorben 31. März 1948) wurde 2019 gemeinfrei.

TAGEBUCHAUFZEICHNUNGEN WEIHNACHTEN 1939

Egon Erwin Kisch, 1931 via Wikimedia Commons

Samstag, den 23. Dezember 1939. – Bin wieder Gefangener auf dem Schiff. Meine Kabine ist abgesperrt. Durchs festgeschraubte Bullauge sehe ich die Neue Welt, der ich vierzehn Tage, Kriegstage lang auf der “Pennland”, Holland-Am.-Line, entgegenfuhr, langsam durch Minenfelder, rasch einem gesunkenen torpedierten Griechenkargo “Germaine” zu Hilfe, und schaukelnd in einer besonders stürmischen See. Das ärgste war die Kontrolle durch die englischen Behörden in Southampton, die freilich nur mich betraf. Sie verpatzten mir den Paß durch ein ostentatives Landungsverbot, obwohl ich weder landen wollte noch konnte, und erhöhten die Wahrscheinlichkeit dessen, was bisher nur leichte Möglichkeit war: Landungsverbot in Amerika. Dennoch ließ ich mir’s gut gehn, “verlobte” mich mit der Bochumerin Hilde Markus und spielte mit Kindern. Daß mein Koffer aus unerfindlichen Gründen nicht an Bord gekommen war, focht mich wenig an. Erst heute, als die Freiheitsstatue und die Felsenlandschaft der Wolkenkratzer an uns vorüberschwamm, meldete sich die Krankheit wieder, die ich vor jeder Grenze zu überstehen habe: die Grenzenkrankheit. Mit dem Pilotenschiff kamen die Reporter und Leonard Mins namens der Guild of American Writers. Der Immigration Officer sagte, mein Paß sei nicht in Ordnung, denn ein chilenisches Visum aus Paris genüge nicht für ein Durchreisevisum nach Amerika, obwohl es dem Amer. Generalkons. in Paris genügt hatte. Ich müsse eines vom chilenischen Konsulat in N. York haben. Während er mit mir sprach, zeigte ihm ein Beamter einen Zettel, ohne Zweifel etwas über mich. “Ich weiß”, sagte er. Ich muß also aufs “Island” -.Euphemismus für EIlis Island, die Insel der Tränen. Aber die EIlis Island ist komplett, die Mannschaft des deutschen Passagierdampfers “Columbus”, der sich vor drei Tagen in die Luft sprengte, ist dort untergebracht, 1000 Mann. Deshalb müssen wir auf der “Pennland” bleiben, aber das ist die “Pennland” nicht mehr. Bis jetzt waren Sie unsere Gäste, jetzt sind Sie unsere Gefangenen – sagte ein Steward, und sie ließen es uns fühlen. Außer mir sind ihrer acht Personen da, und sie haben gebeten, morgen soll kein Fleisch serviert werden. Die Mehrheit deshalb, weil morgen Assarah Betewet ist, ein jüdischer Festtag, die verschwindende Minderheit, weil morgen Weihnachtstag ist. Aus der versperrten Kabine sehen wir die Hoboken Docks der Holland-America und der Gdynia-Am.-Line, 6 street, ferner rechts die Skyscrapers. Zeitungen haben wir bekommen, Weihnachtsnummer optimistischen Inhalts, auch daß ich gestern gelandet bin, steht darin. Brief von Weiskopf, Paket von Joris Ivens, Grete und F. F. c., Telegramme von Klaus und Erika Mann aus Princeton.

Weihnachten und Sonntag, 24. 12. 1939. Nachts in der versperrten Koje, tags in der Lounge, Langeweile und Sorge. Draußen denken Freunde an mich, aber dürfen mich nicht besuchen. Hanns Eisler und Reni telegrafieren, sie erwarteten mich mit Ungeduld. Was ist das aber gegen die meine, [die hoffnungslos ist.] – Abends gibt der Purser eine Runde Bier aus für uns, my turn ist Trude Klare.
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