#Rassismuslesen – Bücher gegen Rassismus: Ein Aufruf zum Mitmachen auf Twitter

“Bibliotheken sind Orte der Dokumentation und Wissensaufbereitung, ihr Anspruch ist möglichst umfassendes Sammeln und freier Zugang für Alle. Mit der #BlackLivesMatter Bewegung erreicht die Debatte über Rassismus und Kolonialismus in unserer Gedenk- und Erinnerungskultur (Denkmäler, Straßenbezeichnungen etc.) zuletzt eine breite Öffentlichkeit. Auch wir Bibliothekar*innen sind als Akteur*innen von Kultur- und Bildungseinrichtungen gefordert, uns einer Auseinandersetzung mit strukturellen Rassismen in unseren Bibliotheken zu stellen. Ausgehend vom angloamerikanischen Raum, wo die professionelle Beschäftigung mit Rassismen in Bibliotheken bereits fortgeschritten ist, gibt es auch im deutschsprachigen Raum einzelne Initiativen und Forschungen dazu.” C3 – Centrum für Internationale Entwicklung Wien

Zu dem von Ferda Ataman ins Leben gerufenen Aufruf passt irgendwie auch ein Teil des Einleitungstextes der Online-Veranstaltung (Austauschtreffen) vom 27.01.2021 mit dem Titel “Decolonize the Library“. Zuletzt trendete am Do/Fr auf Twitter leider der Hashtag “Rassismus gegen Weiße”. Aus diesem Grunde erfand die Journalistin Ferda Ataman (https://twitter.com/FerdaAtaman) den Hashtag #Rassismuslesen. Bereits im Blogbeitrag “Bücher und Leselisten gegen Rassismus?” lautete der letzte Satz, dass solche Listen/Auflistungen/Buchtipps durchaus einen Versuch wert wären, nicht nur für ein mögliches Engagement von Bibliotheken gegen Rassismus. Dies ist nun der passende Anlass damit zu beginnen. Wer aber Zweifel hat, dass es vielleicht doch “Rassismus gegen Weiße” geben könnte, empfehle ich das neue Buch von Emilia Roig “Why we matter” bzw. die Diskussion darüber im Maxim Gorki Theater vom 13.02.21, welche ab Minute 19 diese Frage beantwortet. Ferner empfehle ich die Artikel von , Ciani-Sophia Hoeder, Christoph Giesa und Hannes Soltau. Im Folgenden werde ich ihre Leseempfehlungen, die von anderen, meine eigenen und die vom Bibchat (vom 5. Oktober 2020) in diesem Blogbeitrag in den nächsten Tagen ohne Garantie auf eine endgültige Vollständigkeit hinzufügen. Beim Online Austauschtreffen zum Thema “Decolonize the Library” wurde eine Literaturliste versendet, in der natürlich auch Bücher zum Thema Rassismus dabei waren. Das ein oder andere wird hierzu noch mit angefügt. Vorschläge von Seiten der Leser*innen dieses Blogbeitrags sind ebenso herzlich willkommen.

Atamans Aufruf sollte mehr Unterstützung erfahren und dies ist ein Beitrag dazu.

Zudem ist dies ein Aufruf an alle Bibliotheken, Bibliothekar*innen, Archivar*innen, Informationswissenschaftler*innen und alle sonstigen Antirassist*innen Beiträge zum Hashtag #Rassismuslesen auf Twitter zu posten!

1.) Ogette, Tupoka : exit RACISM – rassismuskritisch denken lernen

2.) Nduka-Agwu, Adibeli/Hornscheidt, Antje L. (Hg.) : Rassismus auf gut Deutsch – ein kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen

3.) Kendi, Ibram X. : How To Be an Antiracist

4.) Hund, Wulf D. : Wie die Deutschen weiß wurden – Kleine (Heimat)Geschichte des Rassismus

5.) Hasters, Alice : Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten

6.) Asiatische Deutsche : vietnamesische Diaspora and Beyond / Hrsg. Kien Nghi Ha. Berlin; Hamburg : Assoziation A, 2012. – S. 344 : Abb. ISBN 978-3-86241-409-3

7.) El-Tayeb, Fatima: Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. 22. September 2016, 256 Seiten. ISBN: 978-3-8376-3074-9

8.) Balibar, Étienne/Wallerstein, Immanuel: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Argument Verlag, ISBN: 978-3-88619-386-9, Titel der französischen Originalausgabe: Race, Nation, Classe. Les identités ambiguës. Editions La Découverte, 1988

9.) Sow, Noah (2018): Deutschland Schwarz Weiß. BoD-Books, 344 Seiten, ISBN 978-3-7460-0681-9

(umfassend aktualisierte Neufassung)

10.) Terkessidis, Mark (2019): „Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute“. Hoffmann und Campe. Weitere Buchveröffentlichungen: http://terkessidis.de/person

11.) Steinke, Ronen (2020): Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und wie der Staat versagt. Eine Anklage. Piper

12.) Çevikkollu, Fatih: Der Moslem-TÜV. Deutschland, einig Fatihland. Der Reiseführer für Eingeborene. Rowohlt.

13.) Ha, Kien Nghi/Lauré al-Samarai, Nicola/Mysorekar, Sheila (2016): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Unrast. ISBN 978-3-89771-458-8

14.) Aydemir, Fatma/Yaghoobifarah, Hengameh (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Ullstein. ISBN: 9783961010363

15.) Amjahid, Mohamed (2017): Unter Weißen. Was es heißt, privilegiert zu sein. Hanser. Berlin. ISBN 978-3-446-25472-5

16.) Şenocak, Zafer (2011): Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift. Edition Körber (Hamburg) 2011. ISBN 978-3-89684-083-7 . Leseprobe

17.) Ben Jelloun, Tahar: Papa, was ist ein Fremder? Gespräch mit meiner Tochter. Rowohlt. Hamburg. ISBN 3-499-22750-9

18.) Roig, Emilia (2021): Why we matter. Das Ende der Unterdrückung. Aufbau. ISBN: 978-3-351-03847-2 . Verfügbar ab 15.02.2021. Leseprobe

19.) Fanon, Frantz (1981): Die Verdammten dieser Erde. Suhrkamp. ISBN: 978-3-518-37168-8

20.) Fanon, Frantz (2019): Schwarze Haut, weiße Masken. Turia+Kant. ISBN 978-3-85132-782-3

21.) hooks, bell (2020): Die Bedeutung von Klasse: Warum die Verhältnisse nicht auf Rassismu und Sexismus zu reduzieren sind. Unrast. ISBN: 978-3-89771-274-4

22.) Arndt, Susan (2017): Rassismus. Die 101 wichtigsten Fragen. 3. Aufl. München: Beck.

23.) Wiedemann, Charlotte (2020): Der lange Abschied von der weißen Dominanz. Bundeszentrale für politische Bildung (Schriftenreihe ; Band 10546) oder dtv. Leseprobe

24.) Pitts, Johny (2020): Afropäisch – Eine Reise durch das schwarze Europa. Suhrkamp. Berlin. ISBN: 978-3-518-42941-9 . Leseprobe

25.) Mbembe, Achille (2016): Kritik der schwarzen Vernunft. Bundeszentrale für politische Bildung (Schriftenreihe ; Band 1703) oder Suhrkamp

26.) Coates, Ta-Nehisi (2016): Zwischen mir und der Welt. Hanser. München. (auch verlegt bei der Bundeszentrale für politische Bildung, aber vergriffen) Leseprobe

27.) DiAngelo, Robin (2020): Wir müssen über Rassismus sprechen : Was es bedeutet, in unserer Gesellschaft weiß zu sein (New York Times-Bestseller – “White Fragility”). Hoffmann & Campe. 9783455008135

28.) Thomas, Angie (2020): Concrete Rose. Random House (erschienen am 25.01.2021). ISBN: 978-3-570-16605-5 (Jugendbuch)

29.) Wenzel, Olivia (2020): 1000 Serpentinen Angst.  Roman. S. Fischer. ISBN: 978-3-10-397406-5

30.) Cha, Steph (2020): Brandsätze. Ars Vivendi. Cadolzburg. ISBN 978-3-7472-0115-2

31.) Olujo, Ijeoima (2020):Schwarz sein in einer rassistischen Welt : Warum ich darüber immer noch mit Weißen spreche. Unrast. Münster. ISBN:  978-3-89771-275-1. Leseprobe

32.) Kelly, Natasha: https://natashaakelly.com/books/

33.) Chebu, Anne (2014): Anleitung zum Schwarz sein. Unrast. Münster. ISBN 978-3-89771-527-1

34.) Ayim, May (1995): Blues in Schwarz Weiß. Orlanda. Berlin.

35.) Arndt, Susan/Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/Piesche, Peggy (Hg.) (2017): Mythen, Masken und Subjekte: Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Unrast. Münster: ISBN: 978-3-89771-440-3

36.) Brokowski-Shekete, Florence (2020): Mist, die versteht mich ja! : aus dem Leben einer Schwarzen Deutschen. Orlanda. Berlin. ISBN: 9783944666761: https://orlanda.de/post/florence-brokowski-shekete-auf-der-spiegel-bestsellerliste

37.) Thomae, Jackie (2020): Brüder. Hanser. Berlin. ISBN: 978-3-446-26415-1

38.) Amjahid, Mohamed (2021): Der weiße Fleck. Eine Anleitung zum antirassistischen Denken. Piper. Köln. ISBN: 978-3-492-06216-9 (Erscheint am 01.03.2021)

39.) Jewell, Tiffany/Durand, Aurélia (2020): Das Buch vom Antirassismus. Zuckersüß Verlag. Berlin. ISBN: 978398213793. (Für junge Erwachsene von 10-17 Jahren)

40.) Eddo-Lodge, Reni (2019): Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche. Klett-Cotta. Stuttgart. ISBN: 978-3-608-50419 . (Orig.: Why I‘m No Longer Talking To White People About Race). siehe auch: Reni Eddo-Lodge, Why I’m No Longer Talking to White People About Race, 22.2.2014, http://renieddolodge.co.uk/why-im-no-longer-talking-to-https://www.dtv.de/buch/theodor-michael-deutsch-sein-und-schwarz-dazu-34857/white-people-about-race«

41.) El-Tayeb, Fatima (2020): Schwarze Deutsche: Der Diskurs um Rasse und Nationale Identität. Campus. Frankfurt. ISBN: 9783593367255 (Books on Demand)

42.) Oluo, Ijeoma (2021): Das Land der weißen Männer. Eine Abrechnung mit Amerika. Hoffmann und Campe. Frankfurt. 978-3-455-01068-8

43.) Wonja, Theodor Michael (2014): Deutsch sein und schwarz sein dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen. dtv. München. ISBN: 978-3-423-34857-7 . Leseprobe

44.) Baldwin, James (2020): Nach der Flut das Feuer (The Fire Next Time). dtv. München. ISBN 978-3-423-14736-1. Leseprobe

Bücher und Leselisten gegen Rassismus?

Der Hashtag #BÜCHERGEGENRASSISMUS stammt vom Literaturblogger Marius Müller (https://buch-haltung.com/). Er thematisierte in seinem Blogeintrag vom 3. Juni die aktuellen Ereignisse in den USA, die nun von einer großen Anzahl von Menschen nicht mehr weiter hingenommen und akzeptiert werden. Aus aktuellem Anlass erstellte er eine Liste antirassistische Literatur. Ich finde diese Liste durchaus gelungen, da neben Sachbüchern und bekannten Klassikern u.a. von J. Baldwin auch Krimis enthalten sind.

Der Blogger geht auch auf den Rassismus in Deutschland ein, der in den letzten Jahren erneut zunahm. Müller gibt sich keinesfalls der Illusion hin, dass Bücher viel gegen Extremismus und Rassismus ausrichten können. Trotz seines Realismus, glaubt er dennoch an die Macht der Worte und die Kraft der Veränderung:

“Denn wenngleich Bücher konkret wenig an herrschenden Verhältnissen verändern, so ist es doch das Denken, auf das sie einen großen Einfluss haben können. Bücher können Sachverhalte vor Augen führen, Privilegien sichtbar machen oder Diskurse anstoßen. Freilich: ohne einen aufgeschlossenen Geist wird das alles nichts – aber bei den Leser*innen der Buch-Haltung gehört eine solche Offenheit ja eh zur Grundeinstellung.”

Wenn ich selbst meine eigene Lesebiografie analysiere, komme ich durchaus zum Schluss, dass es sehr wohl einen Unterschied macht MalcolmX und Roots als Teenager gelesen zu haben. Von MalcolmX ist es kein weiter Weg zu Marcus Garvey und Huey Newton. Die Sensibilität und das Bewusstsein von Diskriminierung betroffene Minderheiten besser zu verstehen, kann durch die Lektüre, welche deren  Anliegen und Geschichte verdeutlicht, erzeugt und geschärft werden. Es gäbe noch weitere Beispiele, die klar machen wie wichtig es sein kann Literatur gegen Rassismus möglichst frühzeitig kennen zu lernen. Erst später entstanden mehr und mehr Sachbücher dazu im deutschsprachigen Raum. Der Bestand zum Thema Fremdenfeindlichkeit/Rassismus fiel in der Kindheit und meiner Jugend in der lokalen Bibliothek vor Ort äußerst dürftig aus, wenn man diesen mit der heutigen Anzahl an Medien vergleicht.

Mit Sicherheit können andere Künste wie Musik und Malerei ebenso ihren Beitrag dazu leisten ein bessere Verständnis für eine antirassistische Haltung zu erzeugen.

Insbesondere im englischsprachigen Raum werden derzeit jeder Menge  Literaturtipps gegen Rassismus weiterverbreitet. Laut dem Slate Magazine vom 1. Juni 2020, sind viele antirassistische Bücher auf Amazon ausverkauft, auf den Bestsellerlisten vor allem im Bereich Non-Fiction sind diese Bücher ganz weit oben zu finden. An dieser Stelle werde ich kurz auf die wichtigsten Quellen der englischsprachigen Literatur gegen Rassismus verweisen ohne eine Garantie auf Vollständigkeit abzugeben:

Zurecht stellte Lauren Michele Jackson am 4. Juni im Vulture Magazine die Frage “What Is an Anti-Racist Reading List For?”. Die Autorin machte darauf aufmerksam, dass die typische antirassistische Literatur wie sie oben genannt wurde und auch in den oben stehenden Gliederungspunkten aufgelistet wurde, keine pädagogische Anleitung gibt und selbstreferentiell ist. Die Autorin glaubt nicht an die Selbstgewisserung derer, die einen solchen Kanon aufstellen und an die Heilsversprechen eines solchen:

“As a friend pointed out on Twitter, George Zimmerman was acquitted seven years ago. Donald Trump was elected four years ago. Black History Month happens every year. Cops kill all the time. The books are there, they’ve always been there, yet the lists keep coming, bathing us in the pleasure of a recommendation. But that’s the thing about the reading. It has to be done.”

Ihren Fatalismus kann ich zwar nachvollziehen, aber ich teile ihn nicht vollkommen. Ob eine Buchempfehlung oder eine Liste mit Literatur ernst genommen wird von all jenen, die Nachholbedarf in Geschichte und Rassismus haben, ist immer fraglich. Es ist aber nachgewiesen, dass Bücher heilsam sein können und nicht nur jungen Häftlingen bei der Resozialisation helfen. Die Wirkpotenziale des Lesens dürfen nicht unterschätzt werden. So gab es bereits vor dem Projekt an der JVA Stadelheim in Dresden einen sogenannten “Dresdner Bücherkanon“. Ein Blick in den Bücherkanon macht deutlich, dass Lesen eine Erziehungsfunktion insbesondere in der Jugendgerichtshilfe haben kann. Der Kanon enthält auch Bücher, die sich mit dem Fremdenfeindlichkeit und anderen Jugendthemen auseinandersetzen. Er richtet sich an jugendliche Straftäter im Alter von 12-20 Jahren.

Die Autorin Nic Stone plädierte am 8. Juni im Cosmopolitan Magazine dafür nicht nur Sachbücher über Rassismus zu lesen, sondern auch Geschichten darüber, wie Schwarze Menschen leben, zu lesen: “Don’t Just Read About Racism—Read Stories About Black People Living

An ihrem Post vom 30. Mai auf Instagram wird deutlich, wie wichtig Kinderbücher sind, in denen zum Beispiel Schwarze vorkommen und Hauptakteure sind. In diesem Zusammenhang sei auf den Blogeintrag “Diversität im Literaturbestand Öffentlicher Bibliotheken?” verwiesen:

Hier ein Auszug ihres Postings:

“Read all the books about racism. All of them. Recognize that racism, racist acts, racist ideas, and racist terror are and have always been about dehumanization. “Those beings aren’t (insert illusorily elevated trait) like us, so we are human and they are not.” Once we become less human in someone else’s sight, we become less worthy of compassion, empathy, space, existence, justice, fairness. Less worthy of love. Peace. Power. Less worthy of of oxygen. Of life. So while you’re reading those books about racism, please also read books about explicitly black people–especially black kids–just being human. Doing things humans are allowed to do in our imaginations: falling in love, dealing with illness, navigating time travel, questioning other aspects of their identities, saving their country, fighting with their parents.”

Nachdem ich mich nun im Zuge des Blogeintrags mit dem Thema Leselisten und deren Funktion ausführlich befasste und selbst über besuchte Lesungen der letzten Jahre wie etwa die von Zafer Şenocak, Anne Chebu, Mark Terkessidis und Sascha Stanicic zurückerinnere und nachdenke, komme ich zum Entschluss, dass Rassisten eher selten bis gar nicht Lesungen besuchen würden, bei denen Meinungen und Haltungen vertreten werden, die den ihren entgegenstehen. Meistens gab es wenig bis keinen Widerspruch aus dem Publikum bei solchen Lesungen, da die Teilnehmer*innen oft einem ähnlichen Milieu angehören und ohnehin fast die gleiche Einstellung wie der Autor/die Autorin mitbringen. Die Sarrazin-Lesung aus dem Jahr 2010 in München ist ein gutes Gegenbeispiel dafür, dass Rassisten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, allen voran der bügerlichen Mittelschicht, einer Lesung beiwohnten, die deren Weltbild bestätigte. Antirassisten, welche etwa die Lesung “störten”, bestätigen genau das Weltbild, welche Rassisten von ihnen haben. All jene, die störten und einen Abbruch erzwingen wollten, erreichten bei den Gästen mitnichten deren Einstellungen & Meinungen zu verändern. Im Gegenteil, die, welche den Autor “gut” fanden, sahen sich in der Meinungsfreiheit beschnitten und bezichtigten die, welche seine Thesen als rassistisch bezeichneten als “Störer”. Der überwiegende Teil der Zuhörerschaft stimmte in diesem Fall mit der Meinung und Haltung des Autors überein, obwohl er und seine Thesen erwiesenermaßen bis zum heutigen Tage rassistisch bleiben.

Leselisten verfolgen zwar ein hehres Ziel und eine “Mission”, aber im seltensten Falle bewirken sie das, wofür sie eigentlich gedacht sind und meist werden nie jene erreicht, die “bekehrt” werden sollten. Solche thematischen Leseempfehlungsaufstellungen und Bücherschaukästen kenne ich aus der eigenen bibliothekarischen Arbeit und beobachte sie auch noch jetzt regelmäßig bei Besuchen in Bibliotheken. Es ist aber durchaus wohlfeil und selbstgerecht, gerade immer das Thema “auszuhängen”, was opportun ist und sich gut verkaufen/ausleihen lässt. Rassismus und der Kampf dagegen sollte nicht für eigene Zwecke instrumentalisiert werden. Auf Menschen, die nicht per se die in den Büchern vermittelte Einstellung teilen, nicht tolerant und antirassistisch sind, mag eine solche Liste paternalistisch, arrogant und bildungsbürgerlich überheblich wirken. Es ist durchaus möglich, dass solche Leselisten eine bürgerliche weiße Mittelschicht erreichen, Angehörige bestimmter Minderheiten, Studierende und auch Leute aus dem Arbeitermilieu. Dennoch wird Lesen alleine, am strukturellen Rassismus und an der ethnischen Diskriminierung beispielsweise an Schulen kaum bis gar nichts ändern. Es könnten noch weitere Beispiele angeführt werden, die noch andere Rassismen anderer Gesellschaftsbereiche aufzeigen und deren mangelnder Abbau durch das Lesen keine unmittelbare Veränderung herbeiführt. Lesen ist immerhin ein Anfang. Ähnlich verhält es sich mit der geplanten Streichung des Begriffs “Rasse” im Grundgesetz. Sollte diese zustande kommen, gibt es ja immer noch den Rassismus.

Dirk Roßmann, der Gründer der gleichnamigen Drogeriekette verschenkte im Herbst 2019 25.000 Bücher von Jonathan Safran Foers Werk “Wir sind das Klima!”. Rossmann war sich nach der Lektüre bewusst, dass sich etwas an der Klimapolitik und an der Haltung jedes einzelnen ändern müsse. Jedem Buchgeschenk Rossmann war ein Brief beigefügt mit der persönlichen Bitte Rossmans mit anderen Menschen über das Buch und dessen Inhalt zu sprechen. Was heißt das nun für Bücher gegen Rassismus? Schließlich kann es immer hilfreich sein, mit anderen über Gelesenes zu sprechen und den ein oder anderen Rassisten außerhalb seines Milieus, innerhalb der Verwandtschaft, als auch im Freundes- und Bekanntenkreis davon zu überzeugen Haltungen, Meinungen und Einstellungen zu überdenken und diese infrage zu stellen. Es kommt vor allem darauf an, mit wem man über das Gelesene spricht und ob die Menschen am Ende tatsächlich bereit sind ihre langjährigen festgefahrenen Vorurteile und Stereotypen aufzugeben. Einen Versuch ist es ja wert.

Ein Erklärvideo zu Gustave Flaubert

Der bekannte französische Romanautor des 19. Jahrhunderts kannte sich gut mit der Tragödie, Frankreich, der Bourgeoisie und dem Lachen aus.

Happy Kids dank Happy Books? Inwiefern die Kritik an der Lesefutteraktion bei Mc Donalds selbstgerecht ist

“Unsere Experten haben die Titel geprüft und können bestätigen, dass sie sowohl zum Vorlesen wie auch als Lesefutter für Kinder zwischen 3 und 9 Jahren gut geeignet sind und damit einen guten Impuls für die Entwicklung von Lesefreude setzen können.“ Sabine Uehlein (Stiftung Lesen)

Verzweiflungstat oder die optimale Lösung zur Leseförderung? Tue Gutes und sprich darüber. Dies haben sich auch die Stiftung Lesen, Kinderbuchverlage und Mc Donalds gedacht, die seit 31.08 zusammenarbeiten. Hierbei wird nicht nur die bekannteste Fastfoodkette der Welt ein Stück weit besseres Image gewinnen (“Greenwashing“), sondern auch deren Partner. Ist es Zufall, dass diese Aktion am 31.08. begann, der zufällig mit dem Ende der Schulferien in einigen Bundesländern korrepondiert? Auf der Webseite der Stiftung Lesen bezeichnet diese ihre Arbeit als zeitgemäße Leseförderung. Angesprochen werden Kinder im Alter von 3 – 9 Jahren, was nicht etwa zufällig die Zielgruppe für Mc Donalds ist, die frühzeitig “angefixt” werden soll, um zukünftiger und regelmäßiger McDonalds Kunden zu gewinnen. Doch es könnte durchaus sein, dass die zeitlich begrenzte Aktion, die von der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch kritisiert wird, auch imstande wäre nachhaltig Kinder bei der frühkindlichen Leseförderung bzw. im ersten Lesealter mehr Lust auf Bücher zu machen, so dass diese durch ihre Eltern und in Ausnahmen durch Eigeninitiative ihren Hunger nach Lesefutter stillen könnten.

Meiner Meinung nach ist es heuchlerisch und selbstgerecht diese zeitlich befristete Aktion (bis 28.09) nun als moralisch verwerflich zu brandmarken und die Stiftung Lesen einseitig zu attackieren. Bibliotheken und Buchhandlungen haben es allzu sehr in einigen Städten Deutschlands (und anderswo) – zwar nicht in allen Fällen – versäumt dort präsent zu sein, wo Menschen aus vermeintlich bildungsfernen Familien ihre Freizeit verbringen, um den Dialog zu suchen und vielen als sogenannte “sozial Schwache” und stigmatisierte Menschen die Schwellenängste vor den Bildungseinrichtungen der Mittelschicht zu nehmen, die zunehmend verroht und sich immer häufiger durch Verachtung gegenüber den sozial benachteiligten Menschen auszeichnet. Bildungseinrichtungen, wie die ebengenannten heißen ja nicht per se Bildungseinrichtungen, weil da Menschen hineingehen, die bereits gebildet sind. Im Gegenteil, deren Auftrag sollte sein Menschen unterschiedlcher Milieus für Bildung zu beistern. Doch beim Betreten dieser Einrichtungen, wird eher erstere Vermutung deutlicher. John Vincent, ein erfahrener Bibliothekar aus London brachte es 2010 in Birmigingham auf den Punkt. Das Wort Libraries könnte meiner Meinung auch mit Schulen und anderen Bildungsstätten ausgetauscht werden:

Libraries are not very keen on groupes, which don’t give a great output.”

Bestes Beispiel hierfür sind Familienbildungs- und Elternbildungskurse, die von kirchlichen und kommunalen Trägern angeboten werden. Sehr häufig entstammen viele Teilnehmer auch hier nicht der Schicht der bildungsbenachteiligten Menschen, die solche Angebote ebenso nötig hätten, wie mir auch ein diöseaner Leiter für Erwachsenenbildung und eine Dozentin aus diesem Bereich versicherten. Nein, es ist zum großen Teil die Mittelschicht, welche solche Angebote weitestgehend in Anspruch nimmt. Die Frage, die sich hieraus ergibt, was wurde über all die Jahre verschlafen, dass nun Privatstiftungen, multinationale Konzerne (in diesem Falle Mc Donalds) und Verlage das Lesen vermeintlich zu fördern scheinen?

In der Stadt, in der ich lebe, gab es bis vor 10 Jahren nur zwei Mc Donalds Filialien und eine Burger King Filiale. Inzwischen gibt es zwei Burger King Filialen, vier Mc Donalds Filialen und eine Kentucky Fried Chicken Filiale, mindestens 10 Döner Kebab-filialen und drei Subwayfilialen.Sicherlich habe ich andere Imbißbuden, an denen es Curry Wurst, Pommes und andere Dickmacher gibt, an dieser Stelle nicht einzeln aufgeführt und diese extra hinzugezählt. Fast Food gibt es vor allem in Berlin und in anderen Großstädten überall an jeder Ecke. Wer nun Mc Donalds Bashing betreibt, sollte einmal in einen normalen Discounter gehen, in dem sich Eltern mit Fast Food aus der Tiefkühltruhe, Süßigkeiten und Fleisch eindecken. Das Problem wird durch ein Verbot einer Kooperation mit der Stiftung Lesen und Mc Donalds nicht gelöst. Es soll ja auch Menschen in Deutschland geben, die sich kein gentechnikfreies, discounterfreies und fastfoodfreies Essen leisten können. Selbst wer von Hartz IV lebt oder zu den nicht gerade wenigen Niedriglohnempfängern in diesem Land zählt, aber dennoch einen eigenen Schrebergarten unterhält, is(s) zwangsläufig nicht immer (un-)gesünder. Biblisch gesprochen: “Der oder die kein Fastfood isst, werfe den ersten Stein.”

Mittlerweile ist es keine Frage der Schichtenzugehörigkeit, wer Fastfood zu sich nimmt. In Büros, in Vorstandsetagen und in vermeintlich bildungsbürgerlichen Milieus, isst man dann eben nur ein Eis oder trinkt einen Kaffee im Mc Café oder isst ab und an einen Hamburger. Diese Schnellketten gehören mittlerweile nicht nur bei uns zum Mainstream, sondern verdrängen zunehmend in Osteuropa und anderswo und anderswo gute Restaurants in bester Lage. Das Problem der Verbreitung solcher weltweiten Fastfoodketten ist daher vielschichtiger. Einseitige Anprangerungen einer solchen Aktion werden der Sache nicht gerecht. Als ich im Rahmen des 100. Bibliothekartages 2011 in Berlin mit einer Bibliothekarin einer Bibliothek für europäische Statistiken in der S-Bahn ins Gespräch kam, stellte sie erneut fest, dass die Deutschen zu den dicksten Nationen Europas und auch weltweit in Rankings obenauf sind. Was kann darauf gefolgert werden? Dass Mc Donalds nur die Spitze des Eisbergs ist, der hier angegriffen wird. Eine differenzierte Analyse, warum gerade in diesem Land die Menschen so dick sind, wäre an dieser Stelle eher angebracht.

Der pauschalen Aussage vieler Kritiker McDonalds Kunden seien alle bildungsfern und weniger lesefreudig stimme ich nicht zu.  Wenn Kommmunen, Politikern, Bürgern und sogenannten Aktivisten daran gelegen ist, gegen Fast-Food-Lokale und deren Greenwashingmethoden vorzugehen, dann kommt die Aktion mit den durch Verlage und der Stiftung Lesen geförderten Buchaktion aber reichlich spät. Bevor bzw. kurz nachdem derartige Filialen überhaupt eine Genehmigung für den Bau einer solchen bekommen, hätte sich bereits Widerstand bei den “gesunden Essern” und Vorzeigepädagogen regen müssen. Ob nun die Stiftung Lesen durch die Mitarbeit an dieser Aktion ein schlechtes Image erleidet, wage ich zu bezweifeln. Sie wird auch dort einen höheren Bekanntheitsgrad erlangen, wo sie bislang gänzlich unbekannt war. Sollte es dererlei Aktionen aus ethischen und sonstigen Gründen in Zukunft nicht mehr geben, dann werden die Kinder, welche vor allem erreicht werden sollen, eben keine Bücher mehr in ihren Tüten vorfinden, sondern Trinkgläser oder Spielzeug. Den Kindern wird damit nicht geholfen.

Die Stiftung Lesen verteidigt ihre kontroverse Zusammenarbeit mit Mc Donalds wie folgt:

“Wir sind aber der Meinung, dass man angesichts der erschreckend hohen Zahl von Analphabeten auch ungewöhnliche Wege gehen muss.“

Wenn staaliche und kommunale Einrichtungen (Schulen, Eltern- und Familienbildungsstätten, Bibliotheken und Jugendhilfeeinrichtungen) anscheinend nicht in der Lage sind, bestimmte Mängel zu beheben, dann kann diese Aktion ein Mittel dazu zu sein Lust auf Mehr zu machen. Doch niemand wird vom Analphabeten zun Alphabetisierten nur weil er oder sie bei Mc Donalds “Happy Meals” kauft. Eher wird er oder sie als regelmäßiger McDonalds Kunde an Gewicht zulegen, anstatt das flüssige Lesen zu vervollkommen. An dieser Stelle ist die Begründung/Ausrede der Stiftung Lesen äußerst dürftig.

Die Dosis macht das Gift. Eltern, dieFastfoodlokale meiden, kaufen ihren Kindern dann eben Süßigkeiten, Speiseeis oder andere eher ungesunde Lebensmittel. Es liegt allein in der Hand der Eltern, wie sie ihre Kinder ernähren und erziehen.

An dieser Stelle ist dem Handelsblatt Recht zu geben, das diese Art der Leseförderung lobt.

“Dabei könnte man es auch anders herum sehen: Wer will, dass aus Kindern aufgeklärte Verbraucher werden, die aufmerksam Kalorientabellen studieren, der muss sie erstmal in die Lage versetzen, solche Informationen zu verarbeiten. Lesen ist da schon mal kein schlechter Anfang.”

Der neueste Coup Mc Donalds ist die Errichtung vegetarischer Filialen in Indien und Pakistan, die im nächsten Jahr eröffnet werden.

Weiterlesen

[Zitat] Unkommentiert – 2012

“Was wäre, wenn die Hälfte der Theater und Museen verschwände, einige Archive zusammengelegt und Konzertbühnen privatisiert würden? 3200 statt 6300 Museen in Deutschland, 70 staatliche und städtische Bühnen statt 140, 4000 Bibliotheken statt 8200 – wäre das die Apokalypse? Was, wenn die frei gewordenen Mittel sich verteilen auf die verbleibenden Einrichtungen, auf neue Formen kultureller Produktion und Distribution, auf die Laienkultur, die Kunstausbildung und eine tatsächlich interkulturell ausgerichtete kulturelle Bildung? […] So wäre Zukunftsfähigkeit wieder Teil der Kulturpolitik.”

Dieter Haselbach/ Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz (In: Der Spiegel 11/2012, S. 139)

Ein TEDx Vortrag von Carol Tilley: "Kids Need Comic Books"

Der folgende Vortrag wurde im letzten Jahr an der “University of Illinois” in Urbana-Champaign gehalten. Besonders lobens- und erwähnenswert ist, dass TEDx UIUC 2010 von einer Gruppe von Studenten organisiert wurde, insbesondere von Cristian Mitreanu. Carol Tilley war lange Zeit als Medienspezialistin für Highschoolbibliotheken und als Dozentin an der Indiana University tätig. Derzeit arbeitet Tilley als Assistenzprofessorin an der Graduate School of Library and Information Science (GSLIS) der “University of Illinois”. Ihr Forschungs- und Lehrinteresse gilt der gedruckten Kinderbuchkultur, der Medienkompetenz und dem Schulbibliothekswesen.

[Zitat] Unkommentiert – 2009

“Als Mitglied der Generation der digital immigrants – die gibt es auch – werde ich mein ganzes Leben lang ein leidenschaftlicher Liebhaber öffentlicher Bibliotheken sein, sie sind der Ort, in dem zumindest meine Generation seine primäre kulturelle Bildungssozialisation empfangen hat. Umso zorniger macht es mich bis heute, dass öffentliche Bibliotheken im Vergleich zu Theatern, zu Museen oder Konzerthäusern eigentlich über keine Lobby verfügen, in der Medienöffentlichkeit gerade hier in Berlin. Es ist gerade wieder eine große Bürgerbewegung für ein von der Schließung bedrohtes Boulevardtheater gebildet worden. Wenn Stadtbibliotheken oder Bezirksbibliotheken oder ihre Dependancen geschlossen werden, finden sie keine entsprechenden Proteste in den Medien. Ich glaube, besonders an dieser traditionellen Institution können wir bestens die Chancen des neuen digitalen Zeitalters ablesen. Ich denke, von nun an kann fast jede Bibliothek ein – im besten Sinne – Doppelleben führen, eine Doppelexistenz im virtuellen Raum des Netzes und als physische Institution. Gerade am Beispiel der Bibliotheken können wir auf sehr produktive Art und Weise die wechselseitige Durchdringung von alten und neuen Medien veranschaulichen und auch gemeinsam erleben.

Prof. Dr. Klaus Siebenhaar (Laudatio zur Verleihung des Biene-Award 2008, am 30. Januar 2009)

Der Kampf des Bürgervereins in Magdeburg-Salbke um den Erhalt der Freiluftbibliothek und des Ladenlesezeichens

“Die beiden Architekten Stefan Rettich und Bernd Hafermalz konnten namhafte Mitbewerber wie Herzog & de Meuron und Thomas Heatherwick’s aus dem Feld schlagen.Das preiswerte und flexible Museumskonzept beziehe die Magdeburger als intelligente und verantwortungsvolle Mitbürger ein, so die Jury in London. Denn die Freilichtbibliothek ist mehr als nur ein besonders geformtes Gebäude: Anwohner können ihr Bücher dort ins Regal stellen, andere sie vor Ort lesen. Mittlerweile beherbergt die Bibliothek 30.000 gespendete Bücher.”

Deutsche Welle

Gibt es eigentlich ein Haltbarkeitsdatum für Bibliotheken? Ähnlich wie bei den Bücherzellen und offenen Bücherschränken verhalten sich nicht immer alle MitbürgerInnen verantwortungsvoll und respektvoll gegenüber öffentlichen Gütern und an öffentlichen Orten. Bereits Anfang Juli berichtete die Magdeburger Volksstimme über den Salbker Bürgerverein und die Architekten, die einen offenen Brief an den Oberbürgermeister (OB) und die Stadtratsfraktionen schrieben und darin die ungenügende Hilfe und das fehlende Engagement der Stadt beklagen. Vandalismus und Zerstörungswut waren der Anlass:

“… Sie schauen seit Monaten tatenlos zu, wie eine kleine Gruppe von Chaoten den Verdienst der engagierten Bürger von Salbke in Trümmer legt. Wir haben Sie schon vor Monaten darüber in Kenntnis gesetzt, dass an den Wochenenden bis zu vierzig schwer alkoholisierte Jugendliche und Heranwachsende aus verschiedenen Stadtteilen den kleinen Leseplatz in eine No-Go-Area verwandeln, in die sich nicht einmal mehr die direkten Anwohner trauen, um die Störenfriede zur Ordnung zu rufen. Es wird randaliert, das Objekt wird demoliert, beschmiert, Bücher werden zerrissen und säckeweise Müll hinterlassen, die dann von den Bürgern entsorgt werden und nicht von Ihren Ämtern, die den Unterhalt des Objektes vertraglich zugesichert haben! – Es gleicht einer Farce, wenn Sie (der Oberbürgermeister d. Red.) in Ihrem Brief, datiert vom 10. Mai 2011 schreiben, ,ich (…) versichere Ihnen ein funktionierendes und gutes Zusammenspiel unserer Ämter und der Polizei.’ Auch heute, mehr als sechs Wochen nach dem Schreiben ist das Objekt unverändert in einem erbärmlichen Zustand. Dies liegt unter anderem auch an der mangelhaften Unterhaltung. Die Rasenpflege und die Leerung der Mülleimer erfolgt in einem Turnus, der bei weitem nicht der Nutzungsintensität des Objekts entspricht. All diese latenten und hausgemachten Faktoren der Verwahrlosung laden gewaltbereite Personen geradezu dazu ein, Vandalismus zu begehen.”

Seit dieser Zeit hatte der OB seinen zuständigen Beigeordneten “mit einer umfassenden Prüfung der Sachverhalte beauftragt”. Trotz meiner Recherchen habe ich keine adäquate Antwort von Seiten der Lokalpolitik auf diesen offenen Protestbrief finden können.  Weder die Magdeburger Volksstimme noch Engagierte auf der Webseite http://www.salbke-magdeburg.de berichteten über Ergebnisse eine Antwort des OB und dessen Beigeordneten, obwohl dies ja ursprünglich nur einige Tage dauern sollte. Doch warum lässt sich die Lokalpolitik solange Zeit? Spielt sie auf Zeit oder soll der Bürgerverein nun auch soziale Probleme lösen? Die Freiluftbibliothek in Magdeburg, die 325.000 € kostete, gewann mehrere Architekturpreise und wurde auf niederländischen, französisch-,  englischprachigen und weltweiten Webseiten lobend erwähnt. 2009 schrieb Dörte zur Eröffnung:

“Eine Mischung, die es in sich hat: ein Bürgerverein, eine ausgemusterte Kaufhausfassade und 20.000 Bücher. Das alles wird mit einem Modellvorhaben des Bundes gut gemischt und als Platz dient eine freie Fläche im Magdeburger Stadteil Salbke. Auf der Brache der früheren Ortsbibliotek wird eine Freiluftbibliothek mit Bühne von den Karo Architekten (Magdeburg) am 20.06.09 eröffnett. Sie soll als Begegnungszentrum für Jung und Alt dienen.”

Der am 1. Juli in der Magdeburger Volksstimme veröffentlichte Artikel “Lesezeichen: Salbker sehen sich im Kampf gegen Chaoten alleingelassen” erwähnte sogar, dass im Deutschen Architekturmuseum das “Salbker Lesezeichen” – sprich die Freiluftbibliothek –  sogar als bester öffentlicher Raum Europas gefeiert wird. Doch wie auf dem Foto zu sehen ist, fehlt nur noch, dass die Bibliothek von rebellierenden Jugendlichen wie 2007 im Pariser Vorort Villiers-le-Bel angezündet wird. Bislang gibt es an der Magdeburger Freiluftbibliothek immer wieder Graffiti-Schmierereien, zerkratzte Wände und Scheiben und auf dem Boden zerstreute Bücher zu besichtigen. Lobend wird im Artikel erwähnt, dass es auch Jugendliche gab, die im Mai bei der Beseitigung der Schäden mithalfen. Doch kann kulturelle Bildung in Form des Lesens von Büchern Jugendliche von Gewalt und Hass gegenüber Büchern und innovativen architektonischen Konzepten abhalten? Das Beispiel Magdeburg zeigt, dass Jugendliche, die wenig (berufliche) Perspektiven haben, sich an ihrer Umwelt in irgendeiner Weise rächen müssen oder es einfach wollen. An Wochenenden scheint dieses Gelände eher ein “No-Go-area” zu sein und der Mob ist da anscheinend ganz unter sich und kann tun und lassen, was ihm gefällt.  Der Verein reagierte nach diesen blindwütigen Zerstörungen: Er engagierte einen Sicherheitsdienst, der Jugendliche, welche dort an Wochenenden “abhängen” Platzverweise ausprach. Hinzu kamen Kontaktgespräche mit der zuständigen Polizei. Dies brachte aber nicht den erhofften Erfolg. Rainer Mann, ein Mitglied des Bürgervereins Salbke hob hervor, dass die Stadt Magdeburg Eigentümer des Grundstücks und der Bibliothek ist. Es sei Aufgabe der Stadt sich regelmäßig um die Entleerung der Mülltonnen, die Wiederherstellung der Bauteile und um die Reinigung der Außenflächen kümmern müsse.

Bisher ist die Freiluftbibliothek noch nicht als gesamtstädtische Bildungs- und Kultureinrichtung annerkannt. Dabei wisse doch jeder, dass die Hemmschwelle Dinge zu zerstören, an Orten sinkt, die stets unterhalten und gepflegt werden. Hinzu kommt, dass vor kurzem das Gebäude in der Straße Alt-Salbke 75, in dem die Bücherausleihe stattfindet und der Bürgerverein untergebracht ist, bald vom neuen Eigentümer übernommen werden. Dieser will den Verein mit seiner Buchausleihe nicht mehr dort unterbringen. Dennoch mache ich mir aufgrund des großen Leerstands an Läden kaum Sorgen, dass dieses Problem bald gelöst sein wird. Mehr Grund zur Sorge könnten den Vereinsangehörigen und NutzerInnen der Freiluft- und Bürgerbibliothek die Tatsache bereiten, dass die lokalen PolitikerInnen, die sich einst bei der Eröffnung noch das ehrenamtliche Bürgerengagement des Vereins und dessen Mitglieder lobten, nun aus dieser Verantwortung mehr und mehr heraushalten werden, wenn nicht ein größerer Protest in der Lage ist, das Freiluft- und das Ladenlesezeichen langfristig zu halten. Eine Konsequenz dieser Ungewissheit ist die Absage des im September geplanten Salbker Stadtteilfests, das der Bürgerverein jährlich ausrichtet. Sollten nicht bald neue Räumlichkeiten gefunden werden, müssen die Vereinsmitglieder die Bücher “einlagern”. Doch worum handelt es sich bei Fleisch, das (ein-)gelagert wird? Ja, um tote Tiere: Weiterlesen

Ein Plädoyer für Karl Lagerfeld als Werberträger für Öffentliche Bibliotheken und warum sich zu wenig Promis und “Wutbürger” für “ihre” Stadtbibliotheken einsetzen

“Celebrities may live glamorous lives, but at the end of the day, we’d like to think that a good number of them curl up at home with a good book. And that’s why it’s so gratifying to learn that a completely unexpected famous person possesses a ton of books.” Judy Berman

 

Lesen denn Prominente heutzutage auch bzw. noch Bücher? Dem in diesem Blogeintrag gewidmeten Foto von Lagerfelds Privatbibliothek zu urteilen, sind Prominente, die lesen,  nicht auf externe Bibliotheken angewiesen.  Wer Geld hat und Platz hat, der kommt ganz sicher nicht in öffentliche Bibliotheken im Gegensatz zu Studenten, SchülerInnen oder von Armut betroffene Menschen oder eben klassische Bücherfreunde, die immer älter und/oder seltener werden. Die Zeitschrift Cicero verfügte ja lange Zeit über eine Rubrik, in der die Privatbibliotheken von Kardinal Lehmann, Marianne Birthler oder auch Anne-Sophie Mutter vorgestellt wurden.  Die Boulevardisierung der Medien macht auch vor  öffentlichen Bibliotheken nicht Halt. Nach einer Kolumne im Dezember 2010  in der BZ zum Neubau der Berliner Landesbibliothek von Gunnar Schupelius, über die Dörte berichtete und dem Artikel “Simply Asbest! Die Tragödie der Bibliothek Konstanz” aus der Zeitung “die Welt” entsteht zunehmend für mich der Eindruck, dass immer häufiger öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken auch vom Boulevard aufgegriffen werden. Es sind wohl nicht nur prominente Menschen, die keine Bücher in externen sprich öffentlichen Bibliotheken ausleihen, sondern sicherlich ein großer Teil des sogenannten Bildungsbürgertums, die (“Wutbürger“) heutzutage bei Demos wie z.B. gegen “Stuttgart 21” zahlenmäßig stark vertreten sind, aber bei so manchen Protesten (wenn sie denn stattfinden) gegen die Sparpolitik an Bibliotheken gerade eben dort quantitativ unterrepräsentiert sind, weil  vermutlich die Asymmetrie der Betroffenheit eine andere ist als bei einer Schülerin  oder einem Schüler, die vor kurzem Bildungsgutscheine erhalten haben. Die letztgenannte Gruppe ist womöglich im besten Lesealter und die Stadtbücherei ist ihre Lesequelle, die vor Literatur mehr sprudelt als deren elterliche Wohnzimmerregale.  Ich will ja dem FAZ-Autor Tilman Spreckelsen nicht gänzlich widersprechen. Auf kommunaler Ebene gibt es einen Bibliothekenschwund, aber im privaten Bereich gibt es jede Menge Bibliotheken. Laut Birgit Mandel und gesicherten empirischen Erkenntnissen zur Kulturnutzung in Deutschland, zählen hierzulande nur 8 % der Bevölkerung zu den regelmäßigen NutzerInnen kultureller Angebote. Wieviele von diesen 8 % besuchen denn öffentliche Bibliotheken und nutzen diese dann auch? Es wird in der technokratischen und ökonomisierten Welt viel mit Zahlen argumentiert, indem beispielsweise die jährlichen ZuschauerInnenzahlen von Fußballstadien mit den jährlichen BesucherInnen von Bibliotheken in Beziehung gesetzt werden. Doch realistisch betrachtet sagt das doch nichts über die wahre Wertschätzung und den Partizipations- und Inklusionsgrad der Gesellschaft an öffentlichen Bibliotheken aus?  Beeindrucken diese Zahlen PolitikerInnen und kommunale Unterhaltsträger? Ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen.  Etwa 50 % der Bevölkerung gehören zu den unterhaltungsorientierten GelegenheitsnutzerInnen, die potentiell noch mehr für kulturelle Angebote zu gewinnen wären. Die restlichen 42 % interessieren sich persönlich nicht für Kunst und nutzen keine kulturellen Veranstaltungen. Welche Chancen und Konsequenzen ergeben sich daraus für öffentliche Bibliotheken? Ich erinnere mich noch an einen Workshop auf dem studentischen Symposium BOBCATSSS  im Jahre 2005 in Budapest, an dem doch eine Professorin aus dem Bereich der Bibliotheks- Informationswissenschaften offen gegenüber angehenden BibliothekarInnen zugab, selbst keine Bibliothek mehr zu besuchen und sie als Einrichtung zur Disposition gestellt hatte. Ob dies nun eine gewollte Provokation war, was ich stark vermute oder ihre private Meinung, sei dahingestellt. Ähnlich verhielt es sich bei einem Zukunftsforscher, der auf dem Bibliothekartag 2009 in Erfurt zugab seit Jahren keine Bibliothek mehr besucht zu haben. Nun soll sich jeder seine Gedanken hierzu selbst machen, aber später soll sich dann auch niemand  wundern, wenn öffentliche Bibliotheken bei Zukunftsforschern und angehenden BibliothekarInnen keine Rolle mehr spielen. Was würde die Kreativbranche öffentlichen Bibliotheken raten? Wie würde ein Karl Lagerfeld heute öffentliche Bibliotheken gestalten und beraten?

Karl Lagerfeld über seine Lesevorlieben:

Hätte gerne Sprachen studiert. Aber man kann ja nicht alles machen. Dafür lesen Sie viel. Ja, alles außer Krimis. Ich liebe Klassiker. Ich mache gerade ein Buch über die Unsterblichkeit der deutschen Romantik. Lesen Sie deutsche Romane? Nicht viel. Wissen Sie was ich im Moment lese? Ich habe mir das Gesamtwerk von Ernst Jünger kommen lassen. Alles, was er geschrieben hat. Ich liebe die Sprache. Sehr ungewöhnlich. Mein Lieblingsschriftsteller ist aber Eduard von Keyserling, impressionistischer Schriftsteller. Französische Literatur lese ich auch kaum, was die heute da so schreiben. Eduard von Keyserling. Sie konnten sich nicht für Houellebecq erwärmen? Dabei komme ich in seinem letzten Roman vor. Da laufe ich auf den Händen rum, das könnte ich im wirklichen Leben gar nicht. […] Nein, Freitags mit einem Berg an Büchern nach Hause zu kommen und bis Montag niemand sehen zu müssen, das ist, wonach ich strebe. […] Aber leider habe ich so viele Bücher, dafür lebe ich nicht lang genug. Sie müssen mal meine Nachttische sehen. Ich lebe inmitten von Büchern. Auch eine Krankheit. Aber ich wünsche nicht, davon geheilt zu werden.”

Der New York Observer wimdete sich am 10. Januar diesen Jahres dem “bescheidenen”, bekennenden Nichtwähler, Mode- und Leseguru Karl Lagerfeld. Anlass war das Buch “The Selby is in Your Place” von Todd Selby, der darin auch Lagerfelds Privatbibliothek ablichtete. Weitere Fotos anderer “Celebrities”-Bibliotheken u.a. von Oprah Winfrey, Woody Allen oder Rod Stewart enthält der Artikel “Celebs, They’re Geeks Like Us: Libraries of the Rich and Famous” von Judy Berman unter dem folgenden Link abrufbar: http://flavorwire.com/141846/celebs-theyre-geeks-like-us-libraries-of-the-rich-and-famous

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