Weit weg von einer barrierefreien Bibliothek

Das Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin sollte so schön werden, eine Vorzeigebibliothek auch für die Benutzung durch Behinderte. Ich erinnere mich da an die erste Vorstellung der Konzeption des Grimm-Zentrums innerhalb eines Seminars zur Auskunft in Bibliotheken, als wir über die baulichen Voraussetzungen sprachen. Jetzt nach Vollendung des wird deutlich, dass man hier bei der Planung versagt hat. Nur fünf Monate nach der Eröffnung des Gebäudes zeigen sich erhebliche Mängel. Gerade Menschen mit Behinderung stoßen immer wieder auf Barrieren, weil Konzepte und Normen an vielen Stellen nicht beachtet wurden, z.B. fehlt ein durchgehendes Blindenleitsystem, schlecht zugängliche Fahrstühle und zu wenig barrierefreie Arbeitsplätze. Immer wieder sind körperbehinderte Studierende auf die Hilfe Fremder angewiesen, an einem Ort, der ihnen eigentlich ein selbstbestimmtes Studium ermöglichen sollte.

Unsere Autorin Doreen Thiede äußerte bereits im Oktober in ihrem Beitrag Kritik an dem Gebäude:

Bei meinem ersten Besuch im Rahmen einer Führung hatte ich den Eindruck, dass es in puncto Barrierefreiheit (Zugang zu den Leseterassen), Akustik (Trichterform der Leseterassen) und Lichtversorgung (Stichwort: selbstreinigendes Dach) durchaus Grund zu Zurückhaltung mit frühen Lobgesängen gibt.

Schon im November gab es eine Protestaktion von Studierenden, die sich mit Augenbinden und Rollstühlen durch das Zentrum bewegten und der Hochschulleitung eine sechsseitige ❗ Mängelliste vorlegten. Daraufhin ordnete HU-Präsident Christoph Markschies Sofortmaßnahmen an, um innerhalb einer Woche die schlimmsten Mängel zu beseitigen. Zudem wurde durch den Akademischen Senatdie Gründung einer Kommission beschlossen, welche ein Konzept für Barrierefreiheit an der HU erstellen sollte. Außerdem wurden kurzfristig Mittel bereitgestellt, um das Gebäude nachzurüsten.

Bisher ist nicht viel passiert. Aus den Sofortmaßnahmen wurden langfristige Pläne und die Kommission besteht bis heute nicht. Einzig die elektrischen Türöffner wurden aktiviert und die Schalter so versetzt, dass sie für Rollstuhlführer einigermaßen erreichbar sind – einigermaßen, da der vorgeschriebene Abstand zur Tür von 50 Zentimetern nicht eingehalten werden.

An den anderen Mängeln arbeitet man noch und will sie laut Präsidium bis zum Wintersemester beseitigt sein, so dass das Gebäude danach barrierefrei gestaltet ist. Dabei hätte man viele Mängel, wie z.B. die fehlenden Handläufe am Treppengeländer, von vornherein vermeiden können. So sind die fehlenden Handläufe ein direkter Verstoß gegen die Bauordnung und wegen ihnen droht der HU eine Geldstrafe von 500.000 Euro.

Der Neubau des Grimm-Zentrums stand schon von Anfang an wohl nicht unter einem besonders guten Stern. So hätte die Humboldt-Universität bereits etliche Jahre vorher diesen Bibliotheksneubau, als die Räume der Staatsbibliothek verlassen werden mussten. Dies war bereits lange bekannt, aber die Genehmigung des Neubaus kam erst auf den letzten Drücker. Falscherweise entschied man sich in den obersten Rängen für eine Lesesaalbibliothek, die den neuen Anforderungen gerade dem durch das Bachelor-/Masterstudium verstärkten Strom von Studierenden vor Ort gar nicht mehr gerecht werden konnte. Alles andere als optimal war auch die Eröffnung des Gebäudes im Oktober 2009.

Fraglich ist, ob man die schwierigen Bedingungen nicht sehen wollte oder konnte. Bei der Bauzustimmung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung waren niemanden die Planungsmängel aufgefallen? Wie geht das? Wer hat da geschlafen?

„Der Senat und die HU sind davon ausgegangen, dass sie ein barrierefreies Gebäude gemäß der Berliner Bauordnung und den einschlägigen DIN-Normen errichten“, erklärt Schwalgin [Abteilungsleiter der Technischen Abteilung der HU, die für den Bau zuständig. Abteilungsleiter]. Die Kritik, die etwa Jürgen Schneider, der Berliner Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung, äußerte, habe die Verantwortlichen nicht erreicht: Die Technische Abteilung sei zu wichtigen Beratungstreffen nicht eingeladen worden, Änderungsvorschläge seien erst viel zu spät eingereicht worden.

Der Berliner Landesbeauftragte forder nun eine sofortige Verbesserung im ganzen Gebäude, doch HU-Präsident Markschiesmahnt Gründlichkeit statt Schnelligkeit an und verspricht nachhaltig beim Umbau über die Mindeststandards hinauszugehen. Das wird wohl teuer für die HU, die nun finanziell für die eigenen Planungsfehler aufkommen muss. Die Kosten, die durch Auslegungs- und Ausführungsfehler des Architekturbüros Max Dudler und der ausführenden Firmen entstanden sind, müssen diese tragen.

In der Ausschreibung für das Gebäude war festgelegt, dass das Gebäude „in allen Funktionen barrierefrei zu gestalten“ ist. Dabei solle so weit als möglich „eine integrative Form“ gewählt werden. Doch schon diese Formulierung sei veraltet, kritisiert Katrin Kienel von der studentischen Sozialberatung. Das Konzept der Integration von Menschen mit Behinderung sei vor Jahren durch das Konzept der Inklusion abgelöst worden.

Das Inklusionsprinzip ist seit März 2007 in Deutschland der gültige Standard, um nach der UN-Konvention von 2006 die behinderte Minderheit als Teil der Gesellschaft zu behandeln und nicht als ein Teil, der eingegliedert werden muss. Die Situation der Menschen mit Behinderung an der HU ist insgesamt schwierig. Viele Gebäude sind für Rollstuhlfahrer auch auf Grund von Denkmalschutzgründen kaum zugänglich.

Etwas macht die derzeitige Situation im Grimm-Zentrum deutlich: Körperlich eingeschränkte Menschen werden durch die Situation vor Ort zu Behinderten gemacht. Dies ist eine unerträgliche Situation. Es muss schnell eine Lösung gefunden werden, um ihnen ein selbstbestimmtes Studium und Arbeiten an der Humboldt-Universität zu ermöglichen und die Bibliothek auch für sie zu einem guten Lernort zu verwandeln.

Quelle:
Stokowski, Margarete: Bibliothek mit Barrieren, via Tagesspiegel (online 14.03.2010/ gedruckt 15.03.2010)

5 Kommentare

  • Wolfgang Kaiser

    Dem Rolex-Learning Center in Lausanne erging es ähnlich. Dort wurde aber bereits vor schon vor Baubeginn durch Behindertenverbände Einspruch erhoben. Ihre Forderung lautete folgendermaßen: Ein öffentlich zugängliches Gebäude – wie die Bibliothek einer Hochschule, die ein sozialer Treffpunkt sein will – müsse in der heutigen Zeit behindertengerecht gebaut werden. Das RLC wurde daraufhin, mehr schlecht als recht, für Mobilitäts- und Sehbehinderte besser nutzbar gemacht (http://www.welt.de/lifestyle/article6692325/Ein-kahler-Raum-befluegelt-die-Sinne.html)

    • Dörte Böhner

      Warum nun ausgerechnet dieser wichtige Punkt vergessen wird? Sind die Erbauer so “behindert” im eigenen Denken, dass sie da so unachtsam vorgehen? Hinterher die Dinge gerade zu biegen wird teuer, nervig (für alle Beteiligten und die Bibliotheksbenutzer – Stichwort Lärm und Staub) und ist oft im Ergebnis unbefriedigend, weil man nicht mehr alle Dinge so hinbiegen kann, wie man es vorher hätte planen können.

  • Kaiser Wolfgang

    Hast du die Albertina-Bibliothek in Leipzig gesehen? Davor gibt es eine Baustelle mit dem Verweis auf den Bau eines “behindertengerechten” Aufzugs (=>http://www.flickr.com/photos/23533506@N04/4451889110/). Ich denke, es gibt noch jede Menge Beispiele von barrierelosen Bibliotheken. Langsam drängt sich der Eindruck auf, dass Barrierefreiheit ist immer noch die Ausnahme als die Regel ist.

    • Dörte Böhner

      Es gibt viele Bibliotheken, die mühsam nachgerüstet werden müssen und viele Bibliotheken, die ihre Konzepte der Barrierfreiheit neu überdenken müssen. Es ist nicht unbedingt damit getan, ein Carrel für Blinde und Sehbehinderte einzurichten. Interessant wäre es, welche Vorzeigebibliotheken es in diesem Bereich gibt. Mir sind momentan keine bekannt. Außerdem würde mich interessieren, ob es regelmäßige Überprüfungen von Bibliotheken unter dem Gesichtspunkt der Barrierefreiheit gibt.

  • Julia Burkhardt

    Ich finde es unmöglich, dass bei der Bautätigkeit der Punkt Barrierefreiheit derart vernachlässigt wurde. Selbstverständlich gestaltet sich die Umsetzung der Barrierefreiheit für andere Bibliotheken schwierig – gerade für jene, die in historischen, denkmalgeschützten Gebäuden untergebracht sind. Aber bei der UB der HU handelte es sich um einen Neubau und man hätte die Chance gehabt zu einem Vorzeigeobjekt auf diesem Sektor zu werden. Nun werden langwierige Pläne zur Verbesserung geschmiedet, um Barrieren abzubauen, die es gar nicht hätte geben müssen. Tja, Chance vertan!