Aus aktuellem Anlass: Die Innsbrucker Stadtbücherei wird ab morgen einmal im Monat zur Lebenden Menschenbibliothek
Die Innsbrucker Stadtbücherei wird ab morgen, dem 29.03. ab 15 Uhr einmal im Monat zur „Lebenden Menschenbibliothek„. Die Projekt-Betreiber fordern Integration auf Straßen-Niveau. Die Aktion nennt sich „Wer bist du?“ und ist eine Veranstaltungsreihe zum Thema Integration. Das Konzept wurde bei den Stadtpotenzialen 08 ausgezeichnet und für die Stadtbücherei adaptiert. Ziel ist es, Begegnungen mit Menschen aus verschiedenen Kulturen zu ermöglichen, zum einem im Rahmen eines Schulprojekts zum anderen während der Öffnungszeiten der Stadtbücherei bei Speis und Trank. Emir Handžo, der bereits 2008 die „Lebende Menschenbibliothek“ mitorganisiert und durchgeführt hatte beklagte hierbei folgendes (was mit Sicherheit auch für Länder wie Deutschland, Frankreich, Schweiz und die Niederlande gilt):
„Die aktuelle Debatte über Immigranten, Asyl, Abschiebung und Sicherheit in Österreich ist meiner Meinung nach Unrecht. Wir sprechen nicht miteinander, sondern übereinander. Einer der Gründe dafür ist ein sehr niedriges Wissen vieler Österreicher über Leute aus anderen Ländern.“
Ab morgen startet die Aktion, bei der die InnsbruckerInnen nun die Gelegenheit haben einmal pro Monat „Lebende Bücher“ kostenlos für ein Gespräch auszuleihen. Zu den lebenden Büchern zählen VertreterInnen gesellschaftlich benachteiligter Gruppen , MigrantInnen, LiteratInnen, PolitikerInnen, Menschen aus „Randgruppen“ oder mit Vorurteilen konfrontierte Bevölkerungsgruppen, aber auch Künstler oder Menschen mit außergewöhnlichen Berufen. Die Gründer des Projekts forderten im Vorfeld:
„Integration in Österreich muss auf ein Straßen-Niveau gesetzt werden, dahin wohin die Leute gehen“, fordern die Entwickler des Projektes. Im Fall der „Lebenden Menschenbibliothek“ heißt das, dass Menschen mit vielfältigen Lebenserfahrungen, mit Migrations- oder Flüchtlingsbiografien, ihre Geschichten mit interessierten Mitmenschen teilen.
Die Stadtbücherei wird so zum Ort der Begegnung von Menschen zwischen verschiedenen Kulturen und an drei Montagen, 29. März, 10. Mai und 7. Juni, jeweils in der Zeit von 15 bis 18 Uhr. Emir Handžo wird an den Menschenbibliotheks-Tagen als „Bibliothekar“ arbeiten. Eine politische Langzeitstudie, die von 1990 bis 2008 durch Christian Friesl als Co-Autor durchgeführt wurde, beschäftigte sich mit dem Wertewandel in Österreich von 1990 bis 2008. Die Ergebnisse sind ebenso erschreckend und besorgniserregend wie unlängst eine Studie über die Fremdenfeindlichkeit in Italien und vielen Studien der letzten Jahre über die Gruppenbezogene Menscheinfeindlichkeit in Deutschland. Demnach ist jeder zweite Österreicher klar ausländerfeindlich, wobei sich 45 Prozent der Österreicher nach einem „starken Mann“ sehnen. Mehr als die Hälfte der Befragten würde Zuwanderung klar verbieten. Eine andere Studie, welche 2001 an der Universiät Innsbruck durchgeführt wurde, kam damals schon zu einem ähnlichen Ergebnis. Laut einer vom Innenministerium in Auftrag gegebenenen aktuellen Studie „Integration in Österreich“ hatten 60 % der aus der Türkei stammenden Einwohner Österreichs berichtet, dass diese mehrfach schlechte Erfahrungen mit Angehörigen der sogenannten alteingeßenen „Mehrheitsgesellschaft“ gemacht hatten. Die Sozialwissenschaftlerin Edith Enzenhofer, die in der Zeit von 2006 bis 2008 zusammen mit mehreren KollegInnen mehrere qualitative Interviews durchgeführt hatte und diese in der Studie „Bedrohungswahrnehmung von MigrantInnen“ Ende 2009 publizierte, kommt zu dem Ergebnis, dass Fremdenfeindlichkeit in Österreich zur Normalität gehört.
In Deutschland ist die Fremdenfeindlichkeit mitnichten geringer. Hierbei will ich eine 2008 veröffentlichen Studie zitieren nach der jeder dritte deutsche Schüler der Aussage „voll und ganz“ zustimmt, wonach es in Deutschland zu viele „Ausländer“ gebe und ein weiteres Drittel der Befragten stimme dem „eher“ zu. Betrachtet man Fremdenfeindlichkeit im europäischen Kontext, so wurden auch hier mehrere Studien veröffentlicht. Einer im letzten Jahr durch die Amadeu-Antonio-Stiftung mitfinanzierten Studie zufolge ist jeder zweite Europäer fremden- und islamfeindlich.
Beim Abbau dieser Ängste und dieser weitverbreiteten Xenophobie könn(t)en Bibliotheken durch Aktionen und inter-kulturellen Begegnungen stärker in den Vordergrund treten als bisher. Wie ich in der Januarausgabe in BuB bereits angemerkt hatte, fehlen im Nationalen Integrationsplan (NIP) Strategien zur Bekämpfung von Rassismus. Heute endeten die „Internationalen Wochen gegen Rassismus„, welche durch den Interkulturellen Rat und den Koordinationsrat der Muslime in der Zeit vom 15.03-28.03. 2010 initiiert wurden. Ob sich deutsche Bibliotheken als Kultureinrichtungen an diesen Wochen aktiv beteiligt haben, ist mir bis dato nicht bekannt. In der dritten Dezemberhälfte 2009 wurde in der Mailingliste ÖB-multikulturell durch Frau Brigitte Lotz von den Vorbereitungen zu den Interkulturellen Wochen (IKW) 2010 berichtet. Diese finden 2010 unter dem Motto „Zusammenhalten – Zukunft gewinnen“ statt. Frau Lotz schrieb am 20.12.09:
„Angesichts des von der Europäischen Union ausgerufenen Jahres zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, ist dies gerade für die Migrations-, Flüchtlings- und Integrationspolitik und auch für Bibliotheken von Relevanz.
Weiter verwies Sie auf Anregungen, welche die Stadtbibliothek Frankfurt, aber auch die Webseite www.interkulturellebibliothek.de (über den Menüpunkt Praxisbeispiele) bietet. Bibliotheken, die sich an den IKW (Sonntag, 26.09 bis Samstag, 02.10.2010) aktiv beteiligen wollen, können über die Internetseite der IKW ab April kostengünstig Materialien (Plakate, Postkarten, Materialienhefte usw.) bestellen, die ab Juni versendet werden.
Meiner Ansicht nach handelt es sich bei der Menschenbibliothek um eine durchaus erfolgsversprechenden Aktion, um Menschen zusammenzubringen. Bibliotheken in Basel, Göppingen, Wuppertal, Bielefeld und in anderen deutschsprachigen Städten setzen in regelmäßigen bzw. unregelmäßigen Abständen derartige „Living Library“ – Konzepte um. Dennoch setzt die Neugier am Anderen voraus, dass man bereit ist sich auf den „Fremden“ einzulassen, wobei bei vielen Menschen wohl die Bereitschaft fehlt.
Nach Wetzel wird der Begriff „Kultur“ stellvertretend für Organisationen wie sie Bibliotheken und Theater sind, verwendet. Für den amerikanischen Ethnolgen und Linguisten Sapir ist der wahre Ort, wo Kultur passiert, die Interaktion von Personen. Somit könnte es eine der Kernaufgaben von Bibliotheken als Kultur- und Kommuniktionsorte sein, ein Forum des Austauschs und der Begegnung zu bieten, denn im persönlichen Kontakt wäre es meiner Meinung nach viel erfolgsversprechender vorhandene Stereotypen und Vorurteile gegenüber dem Anderen zu verlieren als im Kulturraum Internet. Kapuscinski betonte wie wichtig es sei das Bewußtsein beim Dialog mit den Anderen zu haben, dass dieser im selben Moment die Welt anders sieht und sie anders begreift, um die Atmosphäre eines positiven Dialogs zu schaffen. Hieraus erwachsen wieder neue Kompetenzen für den einzelnen, der bereit ist sich auf den Anderen einzulassen und in ihm weniger den Fremden und den Bedroher zu sehen. All das hätte durchaus eine identitätsstiftende Wirkung für beide. Hierbei denke ich vor allem an sogenannten „Randgruppen“, religiöse und ethnische Minderheiten. Ähnlich sehen es auch Trojanow/Hoskité. Ihrer Meinung nach sind kulturelle Vielfalt und Weltbürgertum notwendige Voraussetzungen der menschlichen Existenz – des Zusammenlebens mit anderen und des gegenseitigen Kennenlernens.
Dörte berichtete am 29.06.2007 in einem Blogeintrag “Living Library” – Überlebensstrategie?! vom Konzept der Living Library und deren Potenziale. Dabei warf sie die Frage auf, ob die die Living Library zur Library 2.0 oder zur Library 2.0 gehört oder nur ein Teil von ihr ist. Diese und andere von ihr formulierten Fragen, könnten für die hiesige bibliothekswissenschaftliche Forschung von Interesse sein und näher untersucht werden.
Ich plädiere für eine stärkere Betonung der Bibliothek als einen sozialen Ort und würde es sehr begrüßen, wenn es hierzulande ähnlich wie in Österreich mit der SozialMarie einen Preis für soziale Innovation in Kultureinrichtungen gäbe. Für den Preis der SozialMarie können sich alle diejenigen bewerben, welche die aktuellen sozialen Probleme mit zukunftsweisenden Mitteln aufgreifen und deren Projekt sich im Umfeld gesellschaftspolitischer Veränderungsprozesse bewährt hat. In den letzten Jahren waren dies vor allem Sozialprojekte, welche die soziale Herausforderungen mit kreativen, neuen Projekten angegangen sind. Die Stadtbibliotheken Wiens gewannen 2008 den 1. Preis. In der Begründung der Jury hieß es:
„Menschen können sich in Ruhe, schnell und spielerisch mit ihren eigenen Klischees auseinandersetzen. Die „lebende Bibliothek“ passt sich an den jeweiligen (öffentlichen) Raum an, öffnet ihn für einen „interkulturellen“ Dialog im weitesten Sinne, entwickelt damit ihre methodische Lebendigkeit weiter. Bestechend wie Begegnung in Diversität provokativ-sensibel-leicht angeboten werden kann: Wertschätzung, Offenheit, Interesse ohne Überzeugen-Wollen erleichtert – auch in Folge? – das Leben…“
Ein solcher Preis könnte auch ein Antriebsfeder für Bibliotheken und andere Kultureinrichtungen sein, um mehr zur Teilhabe und der soziale Inklusion einzelner Gruppen in die Gesamtbevölkerung beizutragen. Die TeilnehmerInnen könnten sich so stärker mit dem Thema Diversität auseinandersetzen, was bisher in Bibliotheken noch zu kurz kommt, wodurch das volle Ausmaß einer Bewußtmachung von Individualität stärker hervorgehoben werden könnte.
Außerdem will ich noch auf die innovationshemmenden Faktoren des deutschen Bibliothekswesens eingehen, welche Niko Schachner 2007 in seiner ausgezeichneten und vielbeachten Diplomarbeit benennt:
„Gerade im deutschen Bibliothekswesen krankt es oftmals an der Förderung und Unterstützung von außergewöhnlichen Ideen und Projekten. Dies Bibliothekarinnen und Bibliothekaren zuzuschieben ist einseitig. Es existieren auf jeder Ebene bibliothekarischer Arbeit zukunftsweisende Projekte und Ideen. Das Fehlen einer überregionalen Planungs- und Beratungsstelle hemmt die Innovationsfähigkeit der Profession. Die bestehenden Koordinationsmechanismen sind nicht in der Lage, innovative Konzepte zu befördern, zu verbreiten und zu unterstützen. Es ist zu erwähnen, dass Bibliotheken für außergewöhnliche Projekte, Veranstaltungen und Programme vor allem im sozialen und integrativen Bereich durch überregionale Vergleichsinstrumente wie den Bibliotheksindex (BIX) oder auch die Deutsche Bibliotheksstatistik (DBS) kaum beachtet, geschweige denn honoriert werden. Die Bibliothekswelt folge lediglich einem reagierenden Positivismus, ohne eine eigene Identität zu entwickeln. […] Zielgruppenspezifische Faktoren werden zu wenig oder gar nicht berücksichtigt. Soziale und kulturelle Strukturen innerhalb des Wirkungsbereiches von Bibliotheken in die Evaluation mit einzubeziehen, ist dringend erforderlich. […] Gerade in diesem Bereich gestalten sich die evaluierten Werte von Instrumenten wie beispielsweise dem BIX als innovationsfeindlich.
In Österreich ist es der Verein „Living Books„, der zum Beispiel am 23.04. in der Hauptbücherei Wien eine die nächste Living Books Veranstaltung organisiert und bisher in zehn österreichischen Städten Veranstaltungen mit über 4.000 „lebenden Büchern“ durchführte. Es wäre wünschenswert, wenn sich auch hierzulande eine Initiative „Living Books“ gründen würde, die sich im Rahmen von zielgruppen-spezifischen Projekten je nach Region vernetzt und unter den Schlagworten Dialog, Community Work, Diversität, Anti-Rassismus, Kunst und Vernetzung etabliert. Bei Interesse könnte man sich darüber auf dem BibCamp oder anderen Veranstaltungen austauschen, da ich gerne die Möglichkeiten der Gründung einer solchen Initiative ausloten will und großes Interesse hätte dabei mitzuwirken. Dem Blogbeitrag habe ich noch einen Fernsehbeitrag aus Sendung „Treffpunkt Österreich“ (TW1) hinzugefügt, bei dem der Organisator von Living Books Österreich, Christian Hortulany, das Konzept näher erläutert. Zum Abschluss zitiere ich Antoine de Saint-Exupéry:
„Man kann die Welt nur nach dem verstehen, was man erlebt.“