Anmerkungen zur Zielgruppenorientierung für die LGBT-Community und die Rolle der Öffentlichen Bibliotheken mit besonderer Berücksichtigung der Situation in Frankreich
The purpose of our public libraries is to serve the public. It is time to realise that the public is more diverse than the white, Christian, heterosexual man. Library and information science have a responsibility to proceed in this area, acknowledge the problem and bring LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual) into their field of research. (Anna Johansson in Libreas 01/2008)
In ihrem Artikel machte Johansson deutlich, dass in Schwedens öffentlichen Bibliotheken die heterosexuelle Norm aufrechterhalten wird, indem durch verschiedenen Standards (u.a. Klassifikationen), das Auffinden und das Sichtbarmachen von Literatur für die LGBT-Community erschwert wird. Wie ist das eigentlich hierzulande? Natürlich ist es begrüßenswert, dass Libreas diesen Artikel der schwedischen Bibliothekswissenschaftlerin veröffentlichte, aber warum gab es in den letzten 10 Jahren kaum deutschsprachige BibliothekarInnen, welche diese Aspekte in Form von Artikeln und Vorträgen auf die Agenda brachten? Oder irre ich mich? Ist bei uns alles in Ordnung? Sollte man sich in Zeiten finanzieller Krisen in den Kommunen und anderswo nicht mit wichtigeren Themen beschäftigen?
Durch Zufall wurde ich vor kurzem auf einen Blogeintrag eines französischen Bibliothekars aus Lyon aufmerksam, der sich pünktlich zum „Journée internationale de lutte contre l’homophobie et la transphobie„, also zum „Internationalen Tag gegen Homophobie und Hassgewalt“ am 17. Mai, mit dem Thema befasste und genauer analysierte, inwieweit Homosexualität überhaupt in den Öffentlichen Bibliotheken Frankreichs thematisiert wird. Volker Beck meinte am 16.05. 2010, dass der Hass auf Lesben und Schwule international und in Deutschland nicht überwunden ist und eine Aufnahme des Antidiskriminierungsschutzes auf Grund der Sexuellen Identität ein Zeichen setzen würde, Lesben und Schwule als integraler Bestandteil unserer Gesellschaft zu betrachten. Seit dem letzten Bundestagswahlkampf findet sich für die Aufnahme der „Sexuellen Identät“ ins Grundgesetz als Teil des Diskriminierungsverbots im Artikel 3 zunehmend mehr Unterstützung aus mehreren Parteien (SPD, Grüne, Die Linke und ganz wenige Anhänger der CDU und der FDP). Am 21.04. gab es zu dem Gesetzesentwurf eine öffentliche Anhörung im Bundestag und momentan wird der Gesetzesentwurf hierzu noch geprüft. Dieses Thema hat nun wieder an Aktualität gewonnen und der Blogeintrag des französischen Bibliothekars veranlasste mich nun über dieses Thema zu schreiben
Einer Annäherung an die Thematik, bedarf ein Eingehen auf die Reflexionen des Bloggers. Ich kenne immer noch keine Stadt(teil)bibliothek, welche sich dieser Thematik eingehend annimmt. Außerdem bin ich – obwohl Bibliothekar – auf diesem Gebiet kein „Experte“, da dieses Thema im Studium und in der beruflichen Praxis bisher (noch) nicht auf der Agenda stand. Bislang sind mir nur die von Prof. Dr. Rösch (FH Köln) betreuten Arbeiten von Frau Jakobs aus dem Jahr 2000 („Homosexuelle als Benutzergruppe – Forderungen an die Bibliothek. Eine Untersuchung zu den Herausforderungen, die eine homosexuelle Benutzergruppe an Öffentliche Bibliotheken stellt“ und „Literaturbedürfnisse von Homosexuellen – Forderungen an die Bibliothek„) und der Aufsatz „THE „INVISIBLES“: Lesbian Women as Library Users“ von Heike Seidel aus der Zeitschrift Progressive Librarians bekannt. Darin greift sie eine Diskussion auf, die 1995 unter anderem auch in BuB geführt wurde und nach der Diplomarbeit von Warnke „Eingrenzen statt ausgrenzen“. Doch (wie) wurden diese Arbeiten bis heute in der Fachwelt rezipiert?
Auf dem BOBCATSSS-Symposium 2007 wurde zur Zielgruppenarbeit für die LGBT- Community dieses Thema in Form einer Poster Session von Tiger Swan präsentiert: „Marketing for Inclusion: Reaching the Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender (LGBT) Communities“
Zurzeit sind mir nur Bibliotheken in Großbritannien und den USA bekannt, welche eine gezielte Inklusionspolitik dieser Gruppe betreiben. In deutschen Bibliotheken fand ich bislang nur kostenlose Zeitschriften wie etwa die Siegessäule und Broschüren zum Thema der sexueller Aufklärung. Doch es gibt zahlreiche Initiativen und Organisationen, welche als beratend für Bibliotheken tätig werden könnten bzw. es schon sind. Über Facebook wurde ich auf www.gayboooks.de und www.lesbianbooks.de aufmerksam, welche durchaus Anregungen in Form von Newslettern und Empfehlungen böten.
Der Blogger Thomas Chaimbault ging in seinem Beitrag „Représentations de l’homosexualité dans les bibliothèques municipales françaises“ auf eine Anfrage eines frankophonen Bibliothekars ein, welche an die staatliche Bibiothekshochschule ENSSIB (École nationale supérieure de bibliothécaires) gerichtet war:
Ich bin ein portugiesischer Bibliothekar und bereite meine Masterarbeit zum Thema der sexuellen Vielfalt vor, besonders zur Gruppe der „Lesben, Schwule, Transgender und intersexuellen Menschen“ [die hierzulande auch unter dem Oberbegriff LGBT gefasst werden] und inwieweit diese in den öffenlichen Bibliotheken Portugals thematisiert werden. Ich will herausfinden, ob es eine Zensur bei der Auswahl der Medien gibt, welche für die LGBT-Community geeignet wären und welche Auswahlkriterien es gibt. Können Sie mir sagen ob eine Studie, eine Umfrage oder Artikel zu diesem Thema in Franreich oder anderen Ländern gibt, welche der Frankophonie zuzurechnen sind?
Die Antwort hierzu versuche in Form einer sinngemäß übersetzten Zusammenfassung widerzugeben. Chaimbault verwies neben internationalen Standards der UNESCO (« Manifeste des bibliothèques publiques ») und der IFLA (« Manifeste de l’IFLA sur la bibliothèque multiculturelle »), welche die Vielfalt einer pluralistischen Gesellschaft betonen, auch auf zwei französische Texte, der « Charte des bibliothèques » und dem « Code de déontologie du bibliothécaire ». All diesen Texten ist gemeinsam, dass sie die Notwendigkeit vielfältiger Bestände betonen, welche Antworten auf die Bedürfnisse „aller Menschen“ geben soll. Aus nahezu allen Dokumenten geht hervor, dass die sexuelle Orientierung und die geschlechtlichen Identität in den Beständen der öffentlichen Bibliotheken Frankreichs thematisiert werden muss. Es darf auch keine Zensur dieser Art von Beständen geben.Bislang gibt es noch keine Studie in Frankreich, welche die Wichtigkeit und die Existenz von Medienbeständen für die LGBT-Community in den Bibliotheken Frankreichs analysierte. In Frankreich existieren hauptsächlich nur Bestände zu diesem Thema in Privatarchiven und -bibliotheken, wie etwa der Académie Gay & Lesbienne und auch einige Spezialbestände in der Bibliothèque Nationale de France und in der Pariser Bibliothèque Marguerite Durand. Besonders erwähnenswert ist das Themenportal « Point G » der Öffentlichen Bibliotheken in Lyon, welches einen großen Bestand an Genderliteratur näher vorstellt. Hervorzuheben ist, dass es auf der Webseite zum Bestand Genre et Sexualités einen aufklärenden Text gibt, der sensibilisiert und präzisiert, weshalb es überhaupt eines solchen Bestandes bedarf (Pourquoi parler de diversité sexuelle plutôt que de créer des cotes distinguant homosexualité / bisexualité ou bien gay / lesbienne / bisexuel… ?). Auch der Begriff Gender wird näher erläutert und es werden zahlreiche Quellen und Informationen gegeben, welche die Notwendigkeit einer solchen Abteilung rechtfertigen. Besonders erwähnenswert ist das Eingehen auf die personnes ou communautés stigmatisées (Personen oder stigmatisierte Communities) und die Einladung an jeden sich über diese Themen zu informieren und dem Ziel gegen die Exklusion dieser Gruppen einen Beitrag leisten zu wollen. Außerdem gibt es seit 2001 eine Initiative der Stadt Paris, die zum Ziel hat, einen gezielten Bestand für eine der öffentlichen Stadtteilbibliotheken anzulegen, der sich auch aus LGBT-Archiven zusammensetzt, um schließlich in den städtischen Bibliotheksverbund aufgenommen zu werden. Doch der Aufbau kommt bisher nur schleppend voran.
In einem letzten Kapitel der Antwort auf die Anfrage des portugiesischen Bibliothekars zielt auf das Thema „Homosexualität und Zensur“ in Bibliotheken. Fälle von Zensur sind relativ wenig öffentlich bekannt und es handelt sich dabei häufig um Jugendliteratur. Einem französischen Gesetz von 1949 setzt die Zensur ein, wenn es um Schriftgut geht, dass dazu da ist « de nature à démoraliser l’enfance ou la jeunesse », also die Demoralisierung der Kindheit und Jugend zu betreiben. Gewählte politische Verteter wie Marie-Claude Monchaux und Solange Marchal lancierten in den Jahren 1985-1986 und 1998 gezielt Kampagnen, welche all die Schriften für die Jugend anprangerten, die Jugend durch „eine in ihrem Lebensstil gestörte, aber sozial mächtige Minderheit beeinflußen“. Der Blogger ging noch weiter auf diese gezielte Verleumdungskampagne ein, deren weitere Ausführungen an dieser Stelle genügen mögen. Im Jahr 2005 zeigte sich ein Kinderarzt besorgt um Kinderbücher, welche gleichgeschichtliche Eltern abbilden. In seinen Augen vermitteln Fotos, welche gleichschlechtlicher Paare als Eltern abbilden, abzulehnende Wertvorstellungen. Seiner Meinung nach, ist es nicht die Aufgaben von Stadtteilbibliotheken diese zu vernachlässigenden Ideen zu vermitteln, sondern alleine Sache der Eltern. Dabei ging es um das Kinderbuch «Jean a deux mamans» (Jean hat zwei Mamas), das kritisch in der Zeitung „Le Figaro“ gesehen wurde, weil es der Entwicklung von Kindern schaden könnte. Der Kinderarzt versuchte vergeblich bei der Stadt Paris eine Aussonderung dieses Buches zu erreichen. Diese Kampagnen hatten – mit einigen Ausnahmen durch Hetztiraden der extremen Front National im Süden Frankreichs – keine schwerwiegenden Auswirkungen auf die Bestände der öffenlichen Bibliotheken. Die Berufsverbände haben sich erneut für die Vielfalt und Pluralität in den Bibliotheksbeständen ausgesprochen.
Wieweit ist die Debatte zu diesen Themen im deutschsprachigen Raum? Wie offen werden Fragen um Zensur und der Anschaffung von Medien, welche sexuelle Identität und Orientierung thematisieren, gestellt?
Vor einem Jahr erhielt ich von einer Bibliothekarin folgende Nachricht, als ich dafür plädierte mit dem LGBT-Thema offener umzugehen:
Ich finde einen speziell ausgewiesenen Bestand für Homosexuelle übrigens nicht unbedingt notwendig. Sind sie so anders als Heterosexuelle? Muss man das so raushängen? Sollten wir nicht integrativer arbeiten statt abgrenzender?
Mittlerweile bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass eine integrative Bestandspolitik absolut notwendig ist, aber es gibt dennoch in anderen Ländern mehr Bewußtsein darüber, private Archive und Bibliotheken in den Verbund von Großstadtbibliotheken anzugliedern, wie das Beispiel aus Lyon zeigt. Vorbildlich ist auch das CILIP (Chartered Institute of Library and Information Professionals) in England, die eine eigene Diversity Gruppe haben und 2006 beispielsweise eine Konferenz zum Thema „Pride or Prejudice?“ How well are libraries serving lesbian, day, bi- and trans- communities?“ organisierten. Ziel war es überhaupt ein Bewußtsein für BibliothekarInnen des öffentlichen Bibliothekswesens zu schaffen, wie die LGBT-Community mit Dienstleistungen versorgt werden kann. Die Städte Brighton und Hove sind dabei sehr vorbildlich. Ihre Bibliotheken stellen folgenden Service zur Verfügung:
Both Brighton and Hove library have separate sections of LGBT interest books and have a specialist collection of transgender interest books. Community News Magazines, The Pink Paper, G-Scene and 3Sixty are also available in all the libraries, as well as reading copies of Diva and Gay Times. The Library Services have recently produced a Pink Parenting list, covering books on getting pregnant, dealing with prejudices, LGBT parents of children, as well as LGBT friendly books for children and for teenagers. There is also a booklist for older lesbians and gay men in progress. An informal and friendly reading group for the LGBT community is held at Hove library on a regular basis and reads lesbian and gay interest fiction.
Ich denke, dass es in Deutschland keine aktuelle Statistik bzw. Untersuchung gibt, inwiefern Bibliotheken spezielle Medien anschaffen, die nicht nur der LGBT-Community dienen, sondern auch der heterosexuellen Mehrheitskultur, welche sich über diese Thematik stärker informieren will. Meinen Erfahrungen zufolge gibt es immer noch ein großes Nicht-Wissen zu Begriffen der Intersexualität und der Thematik um die LGBT-Community. Nicht zuletzt wurde im Zuge der Skandale um Kindesmißbrauch in vielen Mainstreammedien und durch den Vatikan alte Stereotype und Klischees hervorgeholt, welche Homosexualität und Pädophilie miteinander in Verbindung bringen und Verallgemeinerungen förderten. Diese unreflektierten, diskriminierenden und unkommentierten Anschuldigungen wurden in vielen Printmedien nicht weiter verurteilt sondern nur als Faktennachrichten serviert. Auf der Webseite des europäischen Projekts TRIANGLE (Transfer of Information to Combat Discrimination Against Gays and Lesbians in Europe) kommt im Bestellformular explizit bei der Auswahl des Berufes auch BibliotharIn vor und es wäre eine wichtige Handreichung, welche nicht nur für die KundInnen einer Bibliothek informativ wäre, sondern auch für VertreterInnen unserer Berufsgruppe. Das Handbuch „Mit Vielfalt umgehen: Sexuelle Orientierung und Diversity in Erziehung und Beratung“ wurde mithilfe der Europäischen Union und in Kooperation mit Partnern in Frankreich, Italien, den Niederlanden und Österreich erstellt. Es soll aufzeigen, wie mit Themen wie z.B. dem Lesbisch- bzw. Schwulsein und Bisexualität in multiethnischen Kontexten umgegangen werden kann. Für alle diejenigen unter uns, welche dieses Thema weiter vertiefen wollen, bietet es auch Anregungen, die durchaus in der beruflichen Praxis eine Rolle spielen können. Eine stärkere Aufklärung über solche Themen wäre gerade in der jetzigen Zeit mehr denn je notwendig und wer außer Bibliotheken und auch Schulen wäre dazu noch besser geeignet?
Ich würde mich auf eine Debatte zu diesem Thema freuen, da mir zum deutschen Bibliothekswesen und dem Umgang mit diesem Thema kaum Publikationen und Stellungnahmen bekannt sind.
Hallo Wolfgang,
vielen Dank für diesen schon lange nötigen (recht langen) Artikel.
In dem US-amerikanischen Werk Radical Cataloging finden sich zwei Aufsätze zu dem Thema. Leider fällt mir spontan keine weitere deutschsprachige Publikation dazu ein.
Bei den kompetenten Ansprechpartner_innen wären noch die feministischen bzw. FrauenLesben Archive und Bibliotheken zu nennen, allen voran die Genderbibliothek in Berlin. Eine ausführliche Liste findet sich im GenderWiki.
Hallo Silvia,
vielen Dank für die Infos und dein Feedback. Ich dachte, es gibt vielleicht doch eine Stadtteilbibliothek in Deutschland, die gezielt mit LGBT-Einrichtungen kooperiert und Bibliotheken, die Internetseiten wie etwa http://www.gay-and-lesbianbooks.de/vmchk/77-Empfehlungen.html und andere nutzen oder Stadtteilbibliotheken, die Privatarchive und -bestände mit in ihren Bestand inkludiert haben und in größere Verbundkataloge mitaufgenommen haben (so wie in Lyon). Schade. Viele Grüße, W.