Wenn Weltkulturerbe unter den Hammer kommt und das Geld fehlt…
111 Briefe, Post- und Ansichtskarten von Franz Kafka an seine Lieblingsschwester Ottilie, genannt Ottla, stehen zur Versteigerung. Ottla wurde von ihm wegen ihrer Standfestigkeit und ihrem Durchsetzungsvermögen bewundert, den Eigenschaften, die ihm selbst fehlten. Nach einem Blutsturz, den er Aufgrund von Tuberkulose erlitten hatte, kümmerte sie sich um ihnm und setzte bei der Prager Arbeiterunfallversicherung Krankschreibungen, Kuraufenthalte und nach langem Ringen, die vorzeitige Pensionierung ihres Bruders durch. All das geht aus der Korrespondenz des Schriftstellers an Ottla hervor. Diese war bisher im Besitz von Ottlas Enkeln und soll nun am 19. /20. April vom Berliner Auktionshaus J. A. Stargardt versteigert werden. Der Preis wird auf 500 000 Euro geschätzt.
Die Erben hoffen, dass dieses umfangreiche Konvolut am besten in den Besitz einer öffentlichen Bibliothek gelangt. In Frage kommen zwei Institutionen, da sie bereits selbst Kafka-Manuskripten besitzen. Die eine Einrichtung wäre die Bodleian Library in Oxford und die andere das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, wo man 1988 in einer spektakulären Gemeinschaftsaktion von öffentlichen und privaten Geldgebern das Manuskript des “Process”-Romans für eine Million Pfund erwarb.
Das Deutsche Literaturachiv in Marbach reagierte diesmal verhalten. Die Erben hatten sich bereits vor Monaten an den Direktor des Archivs Ulrich Raulff gewandt. Dieser musste notgedrungen ablehen, da der damals verlangte Preis deutlich höher als der Schätzpreis lag. Das Archiv konnte dafür die Korrespondenz nicht erwerben.
Die alarmierten Berichte in den Feuilletons kommen Raulff jetzt keineswegs ungelegen. Er möchte sie gern als verkappte Hilferufe in Anspruch nehmen: damit das Wunder, bei den Ottla-Briefen doch noch aussichtsreich mitbieten zu können, vielleicht geschehe.
500.000 Euro sind jedoch nicht das letzte Wort, sondern erwartet wird ein Kaufpreis um 800.000 Euro, was angesichts der Bedeutung von Kafkas Werk als Weltkulturebene eine gerechtfertigte Summe darstellt.
Roland Reuß und Hans-Gerd Koch, die Herausgeber der beiden kritischen Kafka-Ausgaben, sehen im Verkauf der Briefe an eine Privatperson eine Katastrophe, denn damit würden diese aller Voraussicht nach der Wissenschaft und der Allgemeinheit für lange Zeit, vielleicht auch für immer unzugänglich gemacht. Diese Katastrophe ist bereits einmal mit Kafkas Briefen an seine Verlobte Felice Bauergeschehen, die in private Hände gelangten und seitdem als verschollen gelten. Aus Sicht der Wissenschaft und des Allgemeininteresses darf sich ein solches Schicksal nicht wiederholen. Unwahrscheinlich ist, dass die Sammlung der Briefe auseinander gerissen werden könnte, da sich damit die Besitzer derzeit nicht einverstanden zeigen. Aber realistisch ist die Gefahr, dass diese Briefe auch nach Übersee oder Asien verkauft werden könnte.
Das Literaturachiv kann sich keine großen Anschaffungen zur Zeit leisten, da nach Auskunft Raulffs durch gestiegene Personalkosten nichts für den Ankauf übriggeblieben ist. Momentan ist man für den Erwerb auf Drittmittel angewiesen.
Lautstarke Vermutungen, das Archiv habe sich mit dem Erwerb der Archive von Suhrkamp und Insel Ende 2009 verausgabt – die hartnäckig kursierende Summe von acht Millionen Euro will Raulff nicht bestätigen –, weist dessen Leiter entschieden zurück. Die Verträge mit dem ehemals Frankfurter Verlag seien längst geschlossen gewesen, als die Kafka-Erben auf den Plan traten. Und, so Raulff: “Pacta sunt servanda.”
Die Kritik der Kafka-Herausgeber und der Kafka-Kenner Klaus Wagenbach und Hartmut Binder ist durchaus nachvollziehbar, setzt man die hohen Suhrkamp- mit den vergleichsweise niedrigen Kafka-Kosten ins Verhältnis. Doch so richtig vergleichbar sind diese beiden Sammlungen nicht, denn Dank der Erben von Ottla sind ihre Briefe hervorragend publiziert und sind daher “für die Wissenschaft nur von bedingtem Wert”, aber im Suhrkamp-Archiv könnten noch ettliche Schätze verborgen sein.
Für Ulrich Raulff gehören die Manuskripte eines Autors vom Rang Kafkas nicht in Privatbesitz – eine Ausnahme sei es, wenn sie dann durch den Besitzer als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt werden. Gerade in den Briefen an Ottla lernt man einen ganz anderen Franz Kafka kennen, keinen von Selbstzweifeln gepeinigten und von paradoxalen Ansprüchen an sich selbst (zwischen bürgerlicher Existenz und Schriftstellertum) zerrissenen Mann, wie den, den man in den Briefen an Felice entdeckte. Kafka schildert in den Briefen an Lieblingsschwester seine sehr diesseitigen Nöte und Befindlichkeiten. Dies ist eher ein Geplauder ohne Jammern und Klagen und eine lebhafte Anteilnahme am Leben seiner Schwester und ihrer beiden Töchter. Das recht düstere Bild des einsamen Dichters in den Briefen an Felice wird in den Briefen an Ottla durch das eines liebenswürdigen Familienmenschen ergänzt,
Das Marbacher Archiv sollte nicht nur an den “Gemeinsinn” (Raulff) appellieren, sondern selbst alle Hebel in Bewegung setzen: Diese Manuskripte wären ein unschätzbarer Gewinn – nicht nur für die Schillerhöhe.
Quelle:
Schulte, Bettina: Weltkulturerbe unterm Hammer, Badische Zeitung