Seit kurzem verfügt die Grund- und Hauptschule an der Stollstraße Ingolstadt über eine eigene Bücherzelle, die nach meinem Kenntnisstand rege genutzt wird – auch von Jungs. Keinesfalls will ich mich in diesem Beitrag für ausrangierte Telefonzellen als Schulbibliothekenersatz aussprechen – im Gegenteil. Als Teaser bzw. als ein einladendes Element können solche Bücherzellen durchaus die Neugier am Lesen wecken. Natürlich hat es mich als ehemaligen Schüler der Grundschule an der Stollstraße Ingolstadt gefreut, als ich in mehreren Artikeln im Donau-Kurier, der Lokalzeitung Ingolstadts, davon las wie die kleinste Bücherei der Stadt entstand und all diejenigen zum Lesen bringen soll, die sonst eher nicht lesen.
Die kleinste Bücherei Bayerns, so lautete am 11.12.2009 der Untertitel des Artikels über die Einweihung der Bücherzelle, deren Medienecho oberflächlich betrachtet dem einer Bibliothekseröffnung gleichkam. Zu meiner Zeit an der Schule gab es im Klassenzimmer einen Holzschrank, der maximal 50 Bücher enthielt, die oftmals noch aus den 1970er Jahren stammten. In der neuerrichteten Bücherzelle befanden sich zu Beginn etwa 300 Bücher. Es war eher die nahegelegene Pfarrbücherei, die uns SchülerInnen damals das Lesen näher brachte.
Bereits am 18. Juli 2009 berichtete Katharina Lachmann von einer solchen Zelle in Buxtehude. Die eher unkonventionelle Idee an der Grundschule an der Stollstraße in Ingolstadt stammt von der ortsansäßigen Freiwiligenagentur. In den Sommerferien 2009 engagierten sich Schüler – unter der Anleitung der Künstlerin Helga Dick- darin die gelbe Telefonzelle in eine Bücherzelle zu verwandeln, die auf dem Pausenhof steht und nun jeden Tag von 7 bis 17 Uhr geöffnet ist.
Die Kinder selbst gestalteten die Zellen nach ihrem Geschmack mit Sprüchen wie “Lesen ist wie Fernsehen im Kopf” oder “nimm 1, lies 1, bring 1”. Der größte Unterschied im Vergleich zu einer herkömlichen Bibliothek ist die Möglichkeit ein Buch solange zu behalten, wie der Einzelne Lust hat. Selbstverständlich birgt die das Risiko, dass einige Exemplare nie wieder ihren Weg zurückfinden und für immer verschwinden. Meines Erachtens ist das genau der richtige Ansatz und ich bin der festen Überzeugung, dass ein Großteil mit dieser nicht auf Sanktionen setztenden Freiwilligkeit seine Bücher dennoch zurückbringt. Selbst die Sozialministerin Frau Haderthauer findet den Gedanken auf Vertrauen zu setzen ein wichtiges Signal in unserer heutigen Gesellschaft. Von einem befreundeten Bibliothekar aus Tel Aviv weiß ich, dass auch an der dortigen Fakultät für Architektur solche (keine Sanktionen bei Fristüberschreitung) und ähnliche Ansätze Erfolg hatten – weg von einer sanktionierenden Bibliothek – hin zur “Erziehung” der Nutzer zu einer fristgerechten Einhaltung ihrer Ausleihdauer. Laut dem Leiter der Freiwilligenagentur und meinen Recherchen gibt es noch weitere Bücherzellen in Deutschland, die aber allesamt eher für Erwachsene sind.
Sollte das Projekt gut laufen, werden weitere Mini-Büchereien eröffnet. “Es sei nur schwierig an die Telefonzellen zu kommen”, so der Leiter der Freiwilligenagentur. Die Agentur ist allerdings auf Buchspenden angwiesen, ohne die das Projekt wohl kaum möglich wäre. Mit viel Presse- und Medienrummel wurde die Bücherzelle am 11.12. 2009 endlich von der Bayerische Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen Christiane Haderthauser (CSU) persönlich eröffnet, wie unter der angegeben Verlinkung zu sehen ist. Die Aufmerksamkeit der Politik und Medien scheint wohl größer zu sein, wenn es sich um unkonventionelle Ideen zur Leseförderung handelt, die “fast” nichts kosten. Mir und sicher allen SchülerInnen und PädagogInnen wäre es sicher lieber gewesen, wenn Frau Haderthauer im Zuge der nun stattfindenden Ganztagsbetreuung an dieser Schule eine echte Schulbibliothek eröffnet hätte. Eine Grundschule, die aus allen Nähten platzt und schon viele Containerklassenzimmer aufstellten musste, kann sich bzw. will sich natürlich keine solche Bibliothek leisten. Bei einem Bundesland, das sich in den letzten Jahren immer damit geschmückt hatte, in Pisastudien und in Ländervergleichen überall Spitzenreiter zu sein, scheint das Schulbibliotheksmanifest der UNESCO und die Bedeutung von “echten” Schulbibliotheken noch immer nicht auf der Cognitive Map bei allen Unterhaltsträgern und BildungspolitikerInnen bzw. im Wahlprogramm unter dem Stichwort Bildung aufzutauchen:
“Die Schulbibliothek stellt Informationen und Ideen zur Verfügung, die grundlegend für ein erfolgreiches Arbeiten in der heutigen informations- und wissensbasierten Gesellschaft sind. Die Schulbibliothek vermittelt den Schülern die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen, entwickelt die Phantasie und befähigt sie so zu einem Leben als verantwortungsbewusste Bürger.” Schulbibliotheken
Nur die Türkei, die Slowakei, Spanien und Irland lassen sich im Vergleich der OECD-Staaten Bildung weniger kosten als Deutschland und in keinem anderen Bundesland ist der schulische Erfolg so sehr von der sozialen Herkunft abhängig wie in Bayern. Das stelle Annette Mängel 2006 in ihrem Artikel “Bildung: Erben statt Erwerben” anhand folgender Vergleiche für Bayern fest:
“In Bayern beispielsweise hat eine Arzttochter eine fast siebenmal so große Chance, das Gymnasium zu besuchen, wie der Sohn einer arbeitslosen Verkäuferin – und das bei vergleichbarem Leistungspotential. Damit führt Bayern deutlich die Rangliste der sozialen Selektion beim Zugang zu den verschiedenen Schultypen an, denn im nationalen Durchschnitt haben Kinder aus einkommensstarken Familien „nur“ eine viermal höhere Chance, das Abitur zu erlangen. Kinder aus Migrantenfamilien hingegen erhalten noch seltener eine Empfehlung für das Gymnasium: Viertklässler mit deutschen Eltern haben diesbezüglich eine fünfmal größere Chance.”
Die Ungleichheit im Bildungswesen hat laut Klaus Klemm eine Tradition in Deutschland, die bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht und dem Humboldtschen’ Ideal “alle Kinder auf eine Schule” zu schicken gänzlich widersprach, da damals erstmals mit der Selektion begonnen wurde. Klemm wies mithilfe der PISA- und den IGLU-Studien nach, dass die schicht- und migrationsspezifische Ungleichheit im deutschen Bildungssystem fest verankert ist. In der Studie “Bildung auf einen Blick” der OECD, hatte Deutschland bei den Bildungsausgaben 2006 lediglich einen Anteil von 4,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreicht. Zwei Jahre später waren 5,1 Prozent gegenüber einem OECD-Durchschnitt von 6,1 Prozent. Aus dem Radiofeuilleton von Deutschlandradio Kultur aus dem Jahre 2007 (“Der Zustand der Schulbibliotheken ist oft armselig” von Anja Herr) und der Webseite des Bibliotheksportals entnehme ich aktuell, dass nur etwa 15% aller Schulen überhaupt über eine Schulbibliothek verfügen. Weiterlesen