Diversitätsorientierte Bibliotheksarbeit: Tokenismus als Gefahr bei der Personalentwicklung im Bibliothekssektor (Teil 3)

Es reicht nicht, Menschen of Color einzustellen. Denn die werden oft als sogenannter „Token“ benutzt.“ Melz Malayil

Im vorherigen Blogbeitrag (Teil 2) stellte die Leiterin der Stadtbibliothek Bremen bzw. ihre Mitarbeiterin insgesamt zwei Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin mit Zuwanderungshintergrund vor. Das ist eine relativ gute Quote im Vergleich mit anderen öffentlichen Bibliotheken, die häufig viel weniger Mitarbeiter*innen mit Migrationshintergrund in ihren Reihen haben bzw. manchmal auch nur eine Person. Der Bibliothek gelang in verhältnismäßig kurzer Zeit, wobei andere Einrichtungen mehrere Jahre benötigen. In dem folgenden Video berichtet Tina Echterdiek von der Stadtbibliothek Bremen über das IQ Netzwerk Bremen, dessen Ziel es ist die Vielfalt in der Arbeitswelt im Bundesland Bremen zu erhöhen. Die Zielgruppen des Netzwerkes sind eingewanderte Fachkräfte, Unternehmen und der öffentliche Dienst.

Interkulturelle Öffnung und Diversity IQ Bremen: https://www.youtube.com/watch?v=Ju_rRUYHVZc

Doch worin können die Fallstricke liegen, wenn bestimmte „Vorzeigemigrant*innen“ in „weißen“ Räumen beispielsweise in Öffentlichen Bibliotheken eher „allein“ „unter Weißen“ sind? In dem obengenannten Zitat nennt die rassismuskritische Trainerin Melz Malayil den Begriff „Token„. Sie definiert diesen Begriff als „ein rassistisches Verhalten, bei dem Menschen aufgrund eines (zugeschriebenen) Merkmals eingestellt und als Aushängeschild benutzt werden, um das Image der Firma aufzupolieren.“ Malayil glaubt, dass die Person eine bestimmt Gruppe bzw. eine Kategorie, welche ihr zugeschrieben wird, repräsentieren soll. Ein Ziel sei es deutlich zu machen kein „Rassismusproblem“ zu haben. Sie warf in dem Interview Fragen auf, die auch für Bibliotheksverbände, Hochschulen (an denen angehende Bibliothekar*innen studieren) und Bibliotheken interessant sein könnten, um beispielsweise kritischer zu reflektieren, weshalb kaum Diversität hergestellt wird bzw. wie mit Rassismus in Organisationen umgegangen werden sollte:

Wen möchten wir mit Stellenausschreibungen erreichen? Wer verfasst sie? Macht man eine aktive Anwerbung von BIPoC? Oft haben die Ängste und fragen sich, ob sie in einer weißen Organisation arbeiten wollen. Außerdem muss man sich die Kommunikation im Team anschauen. Wie reagieren wir, wenn wir Rassismus reproduzieren? Wie sprechen wir Rassismus an? Welche Begriffe und Verhaltensweisen sind No Gos? Wie gehen wir mit Konflikten um? Denn Rassismus ist nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall. Wir alle sind in diesem System sozialisiert. Dafür können wir gar nichts, aber wir reproduzieren es deswegen auch unbewusst.“

Gayatri Chakravorty Spivak reflektierte als Autorin of Color diesen Begriff und kam zur Erkenntnis, dass „dominante Gruppen einige wenige Marginalisierte im Zentrum zulassen, diese jedoch nur akzeptieren, wenn sie die Ideologie der dominanten Gruppe bestätigen – also dieselbe Meinung vertreten wie diese.“ Diese Gefahr besteht natürlich auch bei Bibliotheken als (potentielle) Arbeitgeber. Laut Sabrina Wijaya kommt es bei einer diversitätsorientierten Politik innerhalb einer Organisation, welche die Inklusion außer Acht lässt, zu Tokenismus. Sie benannte vier Risiken am Arbeitsplatz, welchen Menschen, die einer „Minderheit“ im Sinne einer diversitätsorientierten Organisation angehören, ausgesetzt sein könnten. An dieser Stelle kürze ich das ab und paraphrasiere ich das auf möglichst verständliche Weise:

1.) Gibt es beispielsweise eine Frauen- oder Migrantenquote in einer Organisation, dann sind die jeweiligen Repräsentanten nur das Aushängeschild oder die Galionsfigur, wenn sie bei größeren Entscheidungen nicht berücksichtigt werden bzw. kaum eine Möglichkeit haben, wertvolle Beiträge für ihren Arbeitgeber zu leisten.

2.) Welche Kultur wird in der Organisation gelebt? Wird die Person, welche zu einer unterräpresentierten Gruppe gehört, wenn diese Unzufriedenheit mitteilt, ausgeschlossen?

3.) Wird eine Person als Token instrumentalisiert/behandelt, kann dies die psychische Gesundheit beeinflussen. Der Druck kann belastend sein, so dass sich Personen isoliert fühlen könnten. Als Folge könnten auch sogenannte Mikroagressionen auftreten.

4.) Der vierte Punkt trifft eher für Unternehmen zu. Es geht es um das Wachstum und die Business Performance, welche nicht gesteigert werden kann, da die betreffenden Mitarbeiter*innen keine echte Chance erhalten einbezogen zu werden. Mangelnde Motivation ist dann eine Folge daraus. Bibliotheken in Deutschland, die ein Diversitätsmanagement betreiben, arbeiten ja meiner Meinung nach nicht mit einer Diversity-Scorecard oder führen sogenannte Diversity-Audits durch. Sollte ich mich irren, kann man mich gerne darauf hinweisen, wenn es Bibliotheken gibt, die damit arbeiten. Mit diesen Instrumenten ließe sich die Performanz bzw. das Wachstum eher ermitteln.

Mohamed Amjahid schrieb vor kurzem den Artikel mit dem Titel „Diversity allein reicht nicht“. Sein Resumee fällt folgendermaßen aus:

„Homogen zusammengesetzte Entscheidungsräume treffen schlechte Entscheidungen, zumindest nicht solche, die allen Menschen zugutekommen. Deswegen ist Repräsentation wichtig. […] Was bringt es, Vielfalt zu feiern, während die grundsätzlichen Systeme der Unterdrückung weiter bestehen und durch genau

diese Vielfaltfassade kaschiert werden?“ Mohamed Amjahid

Melz Malayil stellte zutreffend fest, dass Diversity ein „dauerhaftes Querschnittsthema“ ist und nichts mit „Willkür, Höflichkeit oder individuellen Prioritäten“ zu tun hat. Deshalb reicht es meiner Meinung nach für den Bibliotheksbereich nicht aus, wenn sich mit dieser Thematik hauptsächlich nur öffentliche Vorzeigebibliotheken befassen, die von der Kulturstiftung des Bundes als übergeordnete Institution des „360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft“ gesponsert werden. Auf der Tagung in Bremen im vergangenen Jahr und an Bibliothekartagen nahmen ja auch andere interessierte Einrichtungen teil. Es bräuchte eine Vernetzung innerhalb der Verbände von Bibliothekar*innen, welche bestimmte Diskriminierungskategorien aufweisen bzw. marginalsierten Gruppen angehören. Im schottischen Bibliotheksverband gibt es ein sogenanntes CILIP BAME-Network (Black, Asian, and minority ethnic), das ein Forum der Vernetzung und des Austauschs darstellt:

The BAME Network has been established to provide a forum for librarians and information professionals from Black Asian and Minority Ethnic backgrounds to share their experiences, support each other and network. Working with CILIP and other partners, the Network will support the advancement of BAME professionals in the workforce and the development of diverse library, knowledge and information services. The launch of the CILIP BAME Network is an important step in addressing the under-representation of People of Colour within the library and information workforce as identified in the CILIP/ARA Workforce Mapping data (2015).“

Malayil schlägt genau das vor: „Tauscht euch offen aus, sucht oder schafft aktiv die Räume dafür. Stärkt euch gegenseitig und stärkt euch selbst!“ Wie lässt sich das für den  Bibliotheksbereich im D-A-CH-Raum zukünftig und bestmöglich verwirklichen?

„Office for Intellectual Freedom, how can I help you?“ „I need a Lawyer!“

„Office for Intellectual Freedom, how can I help you?“
„I need a Lawyer!“

Wann immer dieser Hilferuf telefonisch im Office for Intellectual Freedom (OIF) eingeht, schrillen die Alarmglocken, greifen eifrige Einsatzkräfte nach Zusatzartikel 1 und 4 der US-Verfassung und brausen auf roten Bücherwägen mit Blaulicht zum nächsten Krisen-Meeting.

Ein Gastbeitrag von Benjamin Flämig und Philipp Maaß

An nicht minder dramatische Feuerwehreinsätze fühlte sich zumindest erinnert, wer am 6. Mai 2015 an der Fachhochschule Köln im Rahmen der Vortragswoche des MALIS-Studiengangs1 den Ausführungen von Dr. Barabara Jones, Executive Director dieser besonderen Institution der American Library Association (ALA), zu folgen das Privileg hatte. Der ein oder andere Zusatz an der eingangs beschriebenen Situation mag dabei von den Autoren aus dem Reich der Fiktion entlehnt worden sein – die Dramatik der Probleme, denen sich das OIF in seiner Arbeit täglich gegenübersieht, und die Entschlossenheit, mit der Frau Jones und ihr fünfköpfiges Team diesen begegnen, waren jedoch real und an diesem Vormittag in Köln für jeden der rund 30 Teilnehmer eindrucksvoll spürbar.

So gilt der eingangs zitierte Hilferuf beispielsweise im OIF schon als „Codewort“, wann immer Bibliothekarinnen und Bibliothekare um ihre Anstellung fürchten müssen oder diese bereits verloren haben, weil sie für in der Verfassung garantierte Rechte wie Presse- und Redefreiheit oder den freien Zugang zu Informationen eingetreten sind. In diesen Fällen, wie auch bei jeder Form der Diskriminierung auf Grund der sexuellen Orientierung, Religion, des Alters oder einer körperlichen Beeinträchtigung, hilft das OIF den betroffenen Menschen nicht nur mit der Gewährung von Rechtshilfe und finanzieller Unterstützung zum Bestreiten des Lebensunterhalts, sondern geht vor allem aktiv gegen diese Zustände vor. Rund 700 solcher Notfälle widmen sich Barbara Jones und ihr Team dabei jährlich mit Hingabe und Leidenschaft; finanziell können sie hierfür auf die Freedom to Read Foundation2 sowie den Merritt Fund3 und somit auf beeindruckende Mittel von rund 1 Million US-Dollar zurückgreifen.

Neben diesen „Noteinsätzen“ bestreitet das OIF damit auch zahlreiche Kampagnen und Programme, so z.B. die jährliche „Banned Books Week“4, in der von Zensur betroffene Bücher vorgestellt werden, für deren Bewahrung in den Bibliotheken gekämpft und das Recht auf freien Zugang zu Informationen lautstark und nachhaltig eingefordert wird.

In einem weiteren Handlungsfeld bemüht sich die Institution von Frau Jones darüber hinaus nicht nur um den Schutz der Privatsphäre aller Bibliotheksnutzerinnen und -nutzer in der digitalen Welt, sondern geht auch aktiv (und erfolgreich) gegen die massenhafte Einsichtnahme in Nutzerdaten durch Bundesbehörden vor.5 In diesem Kontext ist auch die vom OIF jährlich organisierte „Choose Privacy Week“6 zu sehen, während der umfassend über Themen wie Informationsfreiheit, Datenschutz, aber auch entsprechenden Missbrauch durch komplexe Phänomene wie „Big Data“ aufgeklärt wird.

Weitere von Frau Jones im Rahmen ihrer Präsentation vorgestellte Aktivitäten umfassten die Bildungsarbeit zu den genannten Schwerpunkten, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, weltweite Präsenz sowie Lobbyarbeit. Als Herausforderung wurde dabei vor allem die Begeisterung der jungen Generation für die jeweiligen Arbeitsschwerpunkte gesehen.

Abschließend gelang es Frau Jones, über die Thematisierung von ethischen Konflikten in der täglichen Bibliotheksarbeit, hin zur Notwendigkeit des Schaffens von international gültigen „Codes of Ethics“, vor allem für Institutionen wie Bibliotheken zu führen. Gerade die „Ethic Codes“ der großen Bibliotheksorganisationen dienten dabei keinem bloßem Selbstzweck, sondern stellten viel mehr die Antwort auf die zahlreichen zuvor geschilderten Probleme im Bereich von Informationsfreiheit, Datenschutz und Gleichberechtigung dar, denen das OIF täglich gegenübertreten müsse.

Ausgehend von der Anregung Barbara Jones, auch in Deutschland idealer Weise ähnliche Institutionen wie das OIF zu schaffen und auch den hierzulande allgegenwärtigen Problemen mit entsprechenden Programmen und Initiativen zu begegnen, wurde zur gesamten Thematik in Köln intensiv diskutiert. Aus Sicht der Autoren finden sich zahlreiche Aspekte, die sich auch auf die Lage in Deutschland übertragen ließen und der weiteren Diskussion bedürfen, beispielsweise:

  • Aggregatoren, Konsortien und deren Daten: Wie ernst ist es den „großen Playern“, die uns die Ressourcen anbieten, mit dem Datenschutz?

  • Finanzierung: Insgesamt steht die institutionelle Finanzierung in den USA deutlich besser da als in Deutschland. Das OIF verfügt über beträchtliche finanzielle Rücklagen – hierzulande bestünde dahingehend dringender Nachholbedarf! Passend dazu sei auf die aktuell statt findende Diskussion innerhalb des Deutschen Bibliotheksverbands (DBV) – Landesverband Baden-Württemberg – um einen Sonderbeitrag verwiesen. Thomas Stierle von der Stadtbibliothek Ludwigsburg bemerkte im Protokoll der Versammlung7, dass die Volkshochschule Ludwigsburg an ihren Institutionen-Verband jährliche Abgaben in Höhe von 12.500 € abführe. Der DBV wird von der Stadtbibliothek Ludwigsburg mit 483 €, zukünftig mit 652 € Mitgliedsgebühren unterstützt. Grundsätzlich muss die Frage gestellt werden, inwiefern Lobbyarbeit überhaupt noch auf ehrenamtlichen Schultern ruhen kann?

  • Ethische Konflikte sind in der täglichen Bibliotheksarbeit, in allen Laufbahnen und in Wissenschaftlichen wie auch in Öffentlichen Bibliotheken allgegenwärtig! Auf dem Bibliothekartag in Nürnberg findet nächste Woche Donnerstag von 16:00 – 18:00 Uhr eine Invited Session des Vereins Deutscher Bibliothekare (VdB) zur Thematik statt.8 Um die eingeforderte „Ethik von Unten“9 nachzuholen, muss mitdiskutiert werden!

Wie bei vielen anderen Themen stellt sich den Autoren aber auch hier die Frage, wo, wann und ob diesem dringenden Diskussionsbedarf abseits der Bibliothekartage überhaupt noch nachgegangen werden wird? Auch in unserem Land „brennt“ es in all diesen Themenbereichen gewaltig, doch ohne entsprechende „Einsatzleitzentrale“ wie in den USA und nur mit zweifelsohne motivierten, aber schlecht ausgerüsteten Freiwilligen Feuerwehren allein, sind diese brennenden Themen auf die Dauer nicht unter Kontrolle zu bringen, von nachhaltiger Prävention ganz zu schweigen.

Die Präsentation von Frau Dr. Barbara Jones kann hier10 eingesehen werden.

1 Master in Library and Information Science. http://www.ma-lis.de