Lesen – es verändert sich (Lesegedanken)

Lesen? Ja kann ich, habe ich irgendwann mal in der Schule gelernt. Erst fiel es mir sehr schwer und meine Eltern überlegten schon, ob ich nicht vielleicht doch noch zu jung für die Schule bin, aber dann kurz vor Weihnachten machte es klick und Heilig Abend las ich meinem Opa bereits recht flüssig aus der Zeitung vor. Seit dem wuchsen meine Bücherberge und nein, es hat mich nicht dazu gebracht, Bibliothekarin zu werden, obwohl ich Bücher mag, sondern das Lesen hat mit dazu beigetragen, dass ich mich für ein Studium entschieden habe.

Um so überraschter stellte ich nach beendeten Studium fest, dass es mir schwer fiel, etwas anderes als Fachtexte zu lesen. Es war kein mühsames, aber immerhin doch erinnerndes neues Lernen des Lesens. Auch die Menge an zu bewältigenden Texten hat sich geändert. Durch das Blog und Twitter hat sich diese erheblich erhöht, aber das Lesen dieser Texte hat sich gewandelt. Genaues Lesen ist weniger geworden im Vergleich zum Überblickslesen.

Interessant fand ich daher den Artikel der FAZ, auf den ich heute über die Nachrichtenschleuder Twitter aufmerksam wurde. Nicht nur mir ist aufgefallen, dass sich das Lesen verändert hat. Die Forscherin Maryanne Wolf hat das gleiche Phänomen bemerkt und widmet sich seit dem dem Erhalt der vertiefen Lesefähigkeit. Mit Hilfe der Neurowissenschaften konnten viele intuitive Gewissheiten rund ums Lesen auf eine empirische Basis gestellt werden.

Das Lesen muss anders als Sprechen gelernt werden, d.h. wir haben keine innerliche, natürliche, genetische programmierte Veranlagung dazu. Es geht daher auch über die Sprache an sich hinaus, denn das Gehirn muss zum Erlernen des Lesens umgebildet werden. Zum Glück kann man auch imm Erwachsenenalter sein Gehirn umbauen und trainieren.

Vielleicht haben auch Sie sich schon dabei ertappt, wie Sie beim Lesen stumm im Kopf mitsprechen und z.B. nicht nur Dreieck stumm ausprechen, sondern auch die dreieckige Form sehen mit den drei Linien, gleichwinklig oder rechtwinklig oder ganz verschiedenen Winkeln. Dabei wird das Dreieck durch die Buchstaben des Wortes symbolisiert. Der kognitive Prozess wird beim Lesenlernen automatisiert und das Gehirn zu diesem Zweck neu organsiert. Dabei lernt es, das Wort mit all seinen Bedeutungen und Assoziationen innerhalb von 100 bis 200 Millisekunden zu verstehen.

Dass es Anfänger und Leseexperten gibt mit mehreren Zwischenstufen, ist vielleicht sogar zu erwarten, aber Frau Wolf macht im Gespräch deutlich, dass es unser Ziel sein muss, Leseexperte zu werden, um ein Lesen zu lernen, dass über das reine Analysieren und Erfassen von Informationen hinausgeht. Nur so können wir Wissen erwerben. Dafür müssen wir interpretieren und das ist Arbeit, da beim Lesen die Bedeutungen der Wörter, Wortgruppen, Sätze erkannt und auch Verbindungen hergestellt werden müssen. Bekanntes und Unbekanntes müssen identifiziert werden. Wer zu schnell liest, kann dies nicht mehr tun.

Wenn man so schnell fortschreitet, dass man diese Bedeutungen nicht mehr aktivieren kann, weil man nur nach Informationen Ausschau hält, verfehlt man einen wichtigen Aspekt des verstehenden Lesens. Ein ideales Gehirn kann dieses Gleichgewicht halten zwischen Effizienz und Vertiefung. Hier fängt das Lesen erst an und wir werden vom Lesen verändert. Wir werden biologisch und emotional reicher.

Schule und Studium fördern ein effektives, zielgerichtetes Lesen, das schnelle Erfassen von Informationen. Lesen heißt aber nicht nur Informationen erfassen, sondern es geht darüber hinaus. Wir können Teil werden einer anderen Welt, die wir im normalen Leben nie ausleben würden, aber beim Lesen dürfen wir auch verbotene Gefühle und Vorstellungen riskieren. So können wir Dinge entdecken, die wir sonst nie erleben, nie erfahren würden. Bei diesem Lesen geht man über das hinaus, was der Autor uns Schwarz auf Weiß hinterlässt, sondern entdeckt dabei eigene Zusammenhänge und Wahrheiten. Frau Dr. Wolf bezeichnet dies als deep reading und deep understanding.

An dieser Stelle des Artikels habe ich mich an ein Jahr zurückliegendes Gespräch erinnert:
Wir saßen mit unseren damals neuen Nachbarn auf der Terasse und haben uns über Gott und die Welt unterhalten und als er dann nach einem Gang auf die Toilette an meinen Büchern vorbei kam, fragte er, ob ich die alle gelesen hätte. Ich nickte und seine Frau stöhnte, wie man nur so viel lesen könnte. Ihr Mann lachte und meinte: Er lese ja nicht, sondern er schaue Wörter. Damit meinte er genau das, was Frau Wolf in ihrem Gespräch erwähnte. Der Prozess des Lesens war bei ihm soweit automatisiert, dass jedes Wort eine Flut von Bildern, Gefühlen usw. auslöste, die andere nur erleben, wenn sie sich einen Kinofilm anschauen. Mir geht es da genauso und fand es nun faszinierend, welche Erklärungen es dafür gibt.

Wolfs Gesprächspartner Thiel möchte wissen, ob man analytisches oder interpretierendes Denken beim Lesen, bzw. das reflektierende Lesen an sich wissenschaftlich auseinanderhalten und eventuell sogar bildlich darstellen kann. Die Forschung darin ist noch in den Anfängen.

Schrift und damit das Lesen ist bereits seit langem in der Kritik
Sokrates kritisierte, dass die Schrift die gesprochene Rede verfestige und das Lesen verglichen mit dem Gespräch ein passiver, eindimensionaler Vorgang sei, bei dem das Schaffen von Bedeutungen und eine Verknüpfung dieser leide. Ganz so in Schwarz und Weiß kann man das nicht einteilen. Dadurch, dass wir lesen, erwerben wir nicht automatisch Wissen. Wir benötigen Vorkenntnisse und eigene Erfahrungen und zudem die Fähigkeit, so zu lesen, dass wir die gelesenen Dinge in ein Bezugsmuster einordnen können. In unserer komplexen Welt (Stichwort Wissensgesellschaft) können wir unser kulturelles Erbe nicht ohne Schrift und Lesen bewahren bzw. ohne Schrift und Lesen in dem notwendigen Umfang absorbieren.

Heute befinden wir uns in einem Wandel, ähnlich dem vom gesprochenen zum geschriebenen Wort. Das greifbare Lesen (gedruckter Text) wird zum digitalen. Und auch hier ändert sich unser Leseverhalten und damit auch die Art und Weise des Denken.
Frau Wolf äußerte:

Ich erkannte, dass ich noch das alte klassische Gehirn bin und meine Kinder schon digitale Gehirne besitzen. Es ist wie ein Generationenbruch, eine Art Fremdheit.

Jene, die ein „klassisches Lesegehirn“ sich antrainiert haben, stellen sicherlich das ein oder andere Mal fest, dass die starke Beschäftigung mit der digitalen Welt auch dieses Gehirn und damit ihr Denken beeinflusst. Sie lernen mehr und mehr wie die digital Natives zu lesen und zu denken. Durch das Lesen großer Textmengen am PC hat sich mein Leseverhalten sehr verändert und es fiel mir teils sogar schwer, mal wieder ein Buch an einem Stück zu lesen. Twitter führt sogar dazu, innerhalb sehr kurzer Zeit über die Relevanz bzw. Irrelevanz von Texten zu entscheiden, ohne dass die Texte dafür jedesmal vollständig gelesen werden. Das interessiert denjenigen und das könnte dem weiterhelfen und das ist vielleicht etwas fürs Blog. Letzendlich fehlt dann die Zeit und Geduld, sich Texte genauer anzusehen, in Ruhe zu lesen, zu reflektieren und eventuell auch komplett zu durchdenken und die Ergebnisse dieses Prozesses zu verschriftlichen.

Lesen muss man üben. In der Zeit von Mitte April bis Anfang Juni hatte ich keinen eigenen Internetzugang, keinen Fernseher und kein Radio. Da war ich zurückgeworfen auf Bücher, einen PC, der eher eine Schreibmaschine war und ausgedruckte Artikel. Es gab keinerlei Ablenkung. Ich habe rasch gemerkt, dass sich das Lesen wieder normalisierte und dass ich das parallele Arbeiten wie momentan (Text lesen, schreiben, Twitter und E-Mails verfolgen, Radio im Hintergrund) ablegte, dass ich von hier und jetzt, vom Erfassen der reinen Information Abstand nehmen konnte
„Das Buch hat eine stabilisierende Qualität. Es bewegt sich nicht und bringt uns dazu, Pausen zu machen und in eine der Zeit enthobene Sphäre einzudringen.“
Ich habe es gelernt, so zu lesen, aber die heutigen Digital Natives lesen anders, haben ein ruhiges Lesen nicht gelernt. Lesen ist verbunden mit multimedialen Einblendungen, einem Springen von einem Link zum nächsten. Dieses Lesen ist ruhelos, auf Informationsgewinn ausgelegt. Können diese Kinder noch so lesen, dass sie mit dem Drachen kämpfen, dass sie sich mit den beiden Kindern im dunklen Wald ängstigen oder erfassen sie nur noch, dass Georg ein Drachenkämpfer war und Hänsel und Gretel sich nachts im Wald verlaufen haben?

Frau Wolf fragt sich:

… was passiert mit unseren Kindern, die so früh ins digitale Universum hineingezogen werden, dass sie überhaupt nicht die Möglichkeit haben, diesen phantasiebildenden, freudvollen Lesestil zu erlernen? Ich befürchte, dass unsere digital sozialisierten Kinder nie die intellektuelle Spannung kennenlernen werden, die darin liegt, immer weiter über die Bedeutung des Autors hinauszugehen und eine eigene Welt der Vorstellung und Erleuchtung aufzubauen.

Natürlich benötigen wir verschiedene Lesestile, einen der effektiv Informationen erfasst und einen, der über den wortwörtlichen zeichenhaften Gebrauch der Worte hinausgeht. Mein Cousin meinte einmal zu mir, durch das Studium und seine Arbeit hätte er sich zu einem funktionalen Analphabeten entwickelt, womit er meinte, er sei nicht mehr in der Lage, etwas anderes als Fachtexte zu lesen und zu verstehen. Die scannte er innerhalb weniger Minuten so, dass er den Inhalt richtig wiedergeben konnte, aber einen Roman oder einen längeren Zeitungsartikel zu einem eher alltäglichen Thema konnte er nicht mehr in all seiner Bandbreite erfassen.

Wir brauchen die verschiedenen Arten des Lesens. Digitale Texte kommen dem funktional ausgerichteten Lesestil entgegen. Die Fähigkeit des Lesen und die Fähigkeit des schnellen Erfassens benötigen wir, um uns zurechtzufinden. Bereichern – durch Aneignung von Wissen oder durch Fantasie – kann uns jedoch nur das langsame, verstehende und vertiefende Lesen. Dafür benötigen wir ihrer Meinung nach Bücher, möglichst gedruckt.

Das Buch hat eine stabilisierende Qualität. Es bewegt sich nicht und bringt uns dazu, Pausen zu machen und in eine der Zeit enthobene Sphäre einzudringen. Wenn wir ein Buch lesen, haben wir das vor uns, worüber wir nachdenken. Wir müssen nicht daran denken, unsere Mails zu checken oder Ähnliches. Wir haben keine parallelen Gedankenprozesse und müssen unsere Aufmerksamkeit nicht ständig wechseln. Wir können Raum und Zeit verlassen.

Durch das langsame Lesen verbinden wir damit unsere Erinnerungen und unser Vorwissen mit dem neu Erfassten. Das Buch verortet und materialisiert den Text auf einer Seite, in einem Buch, das an einer bestimmten Stelle steht. Das Buch wird somit zu einer sinnlichen, taktilen Erfahrung und einer – im wörtlichen und faktischen Sinn – Gedankenstütze.

Spiegelt sich hier nicht auch das wieder, was wir im Bereich der E-Books beobachten können? So werden für die Informationsbeschaffung elektronische Medien zunehmend bevorzugt, beispielsweise Nachschlagewerke, tagesaktuelle Informationen, während wir uns schwer tun, einen Roman in Ruhe zu lesen. Zwar stellten Studierende des Instituts für Bibliotheks-und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität bei der Untersuchung des Leseverhalten bei unterschiedlichen Medien keinen Unterschied bei der Lesegeschwindigkeit fest, aber muss man hier auch festhalten, dass es sich bei den teilnehmenden Studierenden um eine Altersgruppe handelt, die mit digtalen Texten sehr früh in ihrer Erfahrungen sammelte. Die Ergebnisse können in der Papierausgabe BuB 11-12/2009, S. 770 nachgelesen werden. Gefühlt bevorzugen wir aber dann wohl doch eher das stimmungsvolle Lesen in einem nach Papier und Druckerschwärze duftenden Buch – zumindest ich tue dies.

Lesegedanken verursacht durch das Lesen des F.A.Z.-Gesprächs von Thomas Thiel mit Dr. Maryanne Wolf – Ist unser Gehirn in Gefahr, Mrs. Wolf?

6 Kommentare

  • Jan

    Ich kommentiere mal in digitaler Manier:

    „…Mit Hilfe der Neurowissenschaften konnten viele intuitive Gewissheiten rund ums Lesen auf eine empirische Basis gestellt werden…“
    -…leider finde ich im F.A.Z.-Artikel nichts Empirisches und auch keinen Verweis auf etwaige(schreibt man das so?) Studien, außer der Studie zur Lesegeschwindigkeit.

    „…Texte bewältigen…“, „…Das ist Arbeit…“ und „Lesexperten“ (nur diese könnten Wissen erwerben) – … bei diesen Textstellen geht unter, dass das „deep reeding“ stimmungsvoll und emotional reichhaltig sein soll (ist)… (hört sich für mich einfach zu unangenehm an) … Vielleicht fasse ich das nicht so auf wie gemeint… und okay, es gibt auch einige positive Aussagen über das Lesen (ist doch auch die bessere Methode um es zu bewahren/bewerben [anstatt das neue Lesen zu kritisieren])… Frage mich warum die Leser abgestuft werden… Leseexperten… Wie ist den die Klassifikation im Einzelnen? Und wo sind die emotional hochkompetenten „deepreader“ einzuordnen?

    • Dörte Böhner

      Hallo Jan,

      die digitale Manier erleichtert vieles, verändert beim Kommentieren aber auch den Text und damit dessen Wahrnehmung und Rezeption. Da die Rezeption eng mit dem Lesen verknüpft ist…

      Ich hatte nicht vor, den Artikel der FAZ wissenschaftlich zu belegen, sondern habe ich nur als Grundlage genommen, eigene intuitive Gewissheiten zu reflektieren. Ich habe von ähnlichen empirischen Forschungen in Bezug auf die Wahrnehmung von Fernsehbildern gehört, dem MTV-Phänomen, dass Zuschauer, die seit junger Zeit MTV schauen und die Videos mit den sehr schnellen Bildwechseln verfolgen, sehr viel schneller visuelle Aspekte aufnehmen und verarbeiten können, als dies ZDF-Zuschauer können. Es spricht dafür, dass Verknüpfungen im Hirn anders gestaltet werden, als dies der Fall beim normalen Betrachten von Bildern ist. Es ist ein wenig wie Training. Und diese Grundlage sehe ich durch das Gespräch mit Frau Wolf bestätigt. Da Frau Wolf dazu forscht, wird man über sie sicherlich auch weitergehende Literatur zu den Forschungen, auf die sie sich bezieht, finden.

      Lesen ist Arbeit, Lesen kann aber auch Unterhaltung sein. Und je besser man die verschiedenen Formen des Lesens und das damit verknüpfte Herstellen von Beziehungen und Musterbildung beherrscht, desto einfacher ist es. Die wissenschaftliche Abstufung bezieht sich auf den Prozess des Wissenerwerbs durch das Lesen und Wissen kann nur erworben werden, wenn man es in Zusammenhänge und den eigenen Erfahrungsschatz einbinden kann. Dieses „deep reading“ bezieht sich meiner Meinung darauf, dass man aus dem Gelesenen eigene Erkenntnisse ziehen kann, die so im Text nicht enthalten sind. Aber hier bin ich nur Laie. Die wissenschaftliche Komponente des Lesens interessiert mich, um mein eigenes Leseverhalten zu verstehen, nicht jedoch aus rein wissenschaftlicher Sicht. Daher kann ich alle gestellten Fragen auch nicht beantworten.

  • Sehr spannendes Thema, Frau Böhner !

    Ich glaube auch, dass es mehrere Arten zu lesen gibt. Und das Informationsbeschaffungs-Lesen ist durch das digitale Medium mehr geworden.

    Ich denke aber, es ist nicht „das Medium an sich“, dass das Lesen verändert.
    1. Das digitale Medium hatte bisher Rahmenbedingungen, die das Lesen nicht begünstigen: schlecht auflösende Schriften (vergleichen Sie mal Buchdruck mit 72 dpi), schwache Satztechniken (Ligaturen im Web?) und vor allemeine zu geringe Laufweite der Zeile.
    2. Erinnern Sie sich auch noch an die Anfänge des Internet? Da war es leichter zu lesen! Warum?
    – Texte werden heute für das digitale Medium erstellt. Dh kurze Sätze, Zwischenüberschriften etc. Die Inhalteersteller produzieren also selbst zum Teil das Problem, weil sie die Komplexität von Gedanken vereinfachen.
    – Werbung führt ständig out-of-focus, mit System, sonst würde sie ja keiner sehen.
    – Das Drumherum lenkt ab (bei Betrachtung Ihres Blogs sehe ich 40% Navigation)
    3. Ich vermute, das sich mit Verbreitung von eReader und Tablets das Problem legt. Inetressanterweise erleichtert auch paid content das Lesen, weil es keine ablenkende Werbung gibt.

    Ich wäre im Moment sehr vorsichtig damit, zwischen digitalem Lesen und Buchlesen zu unterscheiden. Die Trennungslinie ist mE die Art der Informationsdarstellung. Die die Information tragende Hardware ist nicht entscheidend.

    Wir sprechen uns in 10 Jahren 😉

    Beste Gruesse
    C.K.

    • Dörte Böhner

      Hallo Herr Kappes,
      ich habe mich weniger wissenschaftlich mit diesem Thema beschäftigt und eher meine eigenen Beobachtungen dazu aufgeschrieben. Dass es mehrere Arten zu lesen gibt, wird einem schon während der Schule beigebracht, wenn es um verstehendes, um interpretierendes oder um analysierendes Lesen geht. Immer ging es dabei auch um den Informationsgehalt des Mediums.

      Ich denke, dass die Form des Mediums unsere Wahrnehmung beeinflusst und auch die Anforderungen an die Form des Lesens.

      Die schlechte Auflösung war dem Lesen nicht förderlich, das stimmt. „Internetausdrucker“ gibt es wohl auch daher noch sehr reichtlich. Aber das Internet hat auch die Form des Textes verändert. War dieser im Buch linear, allerhöchstens durch Fußnoten etwas aufgebrochen, so verändern die digitalen Möglichkeiten den Text stark. Die Linearität wird aufgebrochen, da Links zu anderen Seiten führen und von dort aus nicht unbedingt wieder zurück zum verweisenden Text. Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt. Außerdem werden die Texte unterbrochen und ergänzt durch Bilder, Filme, Tondateien, die den Text nicht nur ergänzen, sondern auch wichtige Inhalte einfügen. Damit wird die Wahrnehmung verändert. Wir müssen diese Texte anders lesen als ein Buch. Dies beeinflusst eintsprechend auch unser Denken.

      Ich erinnere mich nicht wirklich an die Anfänge des Internets. Bin in ihm selbst so richtig aktiv erst seit ca. 2000. Es war ein Umgewöhnen und gewöhnen an veränderte Texte seit dem, das alle paar Jahre ergänzt wird. Die sich verändernden Aufbaustrukturen (incl. das Plazieren der Werbung) machen eine stetige Anpassung notwendig, z.B. von der statischen Webseite zum Blogbeitrag, vom Blogbeitrag zum digitalen Zeitschriftenartikel. Aber durch das viele Unterwegssein im Netz, habe ich mir für bestimmte Dinge (Navigation, Werbung) eine Art „Hornhaut“ angelegt und blende diese besser und anders aus. Ich habe mich an das Lesen dieser Texte gewöhnt, dieses Leseverhalten sozusagen trainiert.
      Das Medium verändert natürlich an dieser Stelle, wie Inhalte präsentiert und dargestellt werden. Zwischenüberschriften vereinfachen und zerstückeln die Darstellung von Sachverhalten. Links helfen aber auch, Verknüpfungen zu erstellen, die in einem Buch durch seine lineare Form nicht möglich wären oder nur sehr umständlich realisierbar wären.

      Die Verbreitung von eReadern und Tablets werden das Problem nicht wirklich lösen. Digitale Texte bestechen eben auch dadurch, dass sie nicht mehr linear werden. Die neue Technik wird Aspekte von Büchern erfüllen können (z.B. Erstellen eigener Anmerkungen an genau den Stellen, wo sie hingehören, eine möglicherweise wieder linearere Darstellung), aber es werden auch die Aspekte des digitalen Mediums eingebracht (z.B. Verlinkungen, multimediale Objekte). Vielleicht lassen sich so bestimmte Anforderungen ans Lesen kombinieren. Aber für alle Formen des Lesens lernt man bestimmten Anforderungen gerecht zu werden und das Gehirn hilft, Strategien zu entwickeln, damit umzugehen.

      Hauptaussage des Beitrags der FAZ war, dass das Gehirn sich den Anforderungen der Medienwahrnehmung und damit den Anforderungen ans Lesen anpasst. Das macht es nicht nur für eine Form des Lesens, sondern für alle. Deshalb macht es Sinn, nicht nur das reine Informationslesen weiterzuentwickeln – welches durch die digitalen Texte besonders gefördert wird – sondern auch das langsame Lesen eines Romans. Wir sollen eben nicht nur die Informationen besonders effektiv aus einem Text herausfiltern können. Wir sollen das Lesen auch nutzen, um zu Träumen, abzuschalten, in ein anderes Geschehen vollständig einzutauchen. Frau Wolf sieht hier die Gefahr, dass diese Fähigkeit nicht mehr erlernt wird. Ob sie recht behält, werden wir sicherlich in den nächsten 10 Jahren ansatzweise feststellen können, aber auch ein Blick zurück hilft weiter. Die Geschwindigkeit der Fortbewegung hat uns verändert, genauso die Wahrnehmung von konservierten bewegten Bildern. Wir und unser Gehirn haben uns daran angepasst. Das Lesen ist nur ein Aspekt dabei.

  • Hallo Frau Böhner,

    wir sind uns einig. Ich glaube auch, dass es verschiedene „Lesarten“ gibt, dass das Internet eine bestimmte Art fördert und dass das Gehirn sich anpasst, indem es zB Werbung auszublenden lernt. Letzteres lässt sich sogar beweisen, die Klickraten auf Display-Werbung sinken seit langem.

    Was ich nur anmerken wollte: Das hat seine Ursache nicht in digital vs analog, Internet vs. Buch. Sondern darin, wie beschränkt das digitale Medium derzeit noch ist und – das finde ich am wichtigsten, weil wir es beeinflussen können! – wie Texte heute in Erwartung einer Rezeption geschrieben werden und wie sie strukturiert und von Werbung umgeben sind, damit das Geschäftsmodell funktioniert. Platt gesagt: Die Wikipedia liest sich besser, weil sie einspaltig ist und auf Werbung verzichtet.

    Nebenbei: Ich bin bis heute ein Internet-Ausdrucker, weil ich wichtige Texte dann anders verarbeite. Ich habe auch heftige Kritik dafür einstecken müssen, dass ich in meinem Blog „nur“ ein pdf eingestellt habe, genauso wie dafür, mein Text sei „zu lang“. Alle diese drei Argumente sind Ausfluss dessen, dass die digitale Branche nicht begriffen hat, wie wichtig das Verständnis von Lesen ist. Manche Texte müssen lang sein, manche sind eben schwer verständlich – und manchmal muss man sie auch drucken.

    Im übrigen finde ich es bemerkenswert, dass viele Leser heute im digitalen Medium Ansprüche stellen und anscheinend jeden Text an den gewohnten Nachrichtenportaltexten messen. „Dein Text ist schwer lesbar“, „Du musst schreiben, damit Du gelesen wirst“ etc. Wenn ich dann antworte: ich will gar nicht, dass diesen Text jeder liest und jeder versteht, ernte ich Unverständnis. Mein Anspruch als Autor, der immerhin kostenlos schreibt, findet nicht so recht Anklang. Diese Erwartungshaltung gilt bei Buchautoren anscheinend nicht.

    • Dörte Böhner

      Hallo Herr Kappes,
      die Anspruchshaltung im Netz ist ungeduldiger und das liegt wohl auch an der Wahrnehmung der Texte. Ich kann jederzeit woanders hingehen, was meine Aufmerksamkeit mehr fesselt. Ich mache das freiwillig. Das Lesepublikum ist anders. Zufallsbesucher, Interessierte, die regelmäßig folgen, Abonnementen, die diese Texte nicht in der Originalfassung lesen (z.B. im RSS-Reader) – ihnen allen gerecht zu werden ist kaum möglich. Hier spielen technisches Können und die Beherrschung des eigenen Sprach- und Schreibstils eine erhebliche Rolle. Mit dem geübteren Leseverhalten am Bildschirm sind auch meine Texte länger geworden. Hat sich die Wichtigkeit richtig gesetzter Absätze erhöht, aber das wiederum beruht auch auf Leseerfahrungen. Das merke ich immer wieder, wenn ich andere berate in Bezug auf Websites, Blogbeiträge, etc.

      Bei elektronischen Texten vergessen wir gerne, dass neben Überschriften oder fehlenden Überschriften, der Seitenumbruch an sich ein weiteres Mittel der Gliederung ist. Dies lässt sich durch das digitale Medium nur bedingt wiedergeben. Hier im Blog ist es das weiterleiten zum ganzen Artikel mit Mehr dazu… Allerdings ist diese Möglichkeit sehr begrenzt. Daher ist man gezwungen, längere Texte in mehrere Beiträge zu packen. Jeder Beitrag ist aber wiederum ein Neustart in einen Text. Das ist an der Stelle ein Vorteil, den eReader bieten – eine nachvollziehbare Seitenstruktur, die das Lesen wieder unterstützt.

      Ob man allem nachgeben muss? Wohl kaum, aber unser Lesen ist geprägt worden durch die Strukturen der Medien, die uns zur Verfügung standen. Wir haben die Medien auch an die Funktionalitäten, die mit dem Lesen verfolgt werden, angepaßt. Da ist einerseits das Spaltenlesen der Tageszeitungen unterbrochen durch riesige Überschriften, das Fließtextlesen in Romanen, das Lesen „übergliederter“ Texte am PC. Darauf sollte man sich einstellen – auch als Autor, es sei denn, man will bewußt damit brechen. Das muss dann aber auch dem Lesenden von vornherein vermittelt werden.

      Ich habe eine Erwartungshaltung an Buchautoren, welche Form ihr Text haben sollte, dass er vorne beginnt und hinten endet, dass es Seiten gibt und bei Kapiteln ein Inhaltsverzeichnis, damit ich zur entsprechenden Seite springen kann. Durch die zunehmenden technischen Möglichkeiten (Verlinkung, nicht-linearer Textaufbau, multimediale Unterstützung, Volltextsuche u.a.) bei Online-Texten wachsen auch hier die Erwartungen. Der Autor selbst darf aber jederzeit entscheiden, ob er diesen Erwartungen gerecht wird oder nicht.