CfP für LIBREAS-Ausgabe #39, 2. Schwerpunkt Dekolonisierung

Der Call for Papers zum 2. Schwerpunkt Dekolonisierung der Libreas Ausgabe #39 wird an dieser Stelle hier nochmal in verkürzter Version veröffentlicht. Von seiner Thematik passt dieser sehr gut in den Black History Month, da die Kolonialgeschichte Deutschlands sehr stark mit der von Schwarzen Menschen bzw. People of Color verknüpft ist. „Antirassistisch und/oder dekolonial? Bibliotheken im Spannungsfeld antirassistischer und kritischer Auseinandersetzung mit dem eigenen kolonialen Erbe“, so lautete die Überschrift des Call for Papers vom 27.01.2021.

„Bibliotheken müssen sich wie alle Gedächtniseinrichtungen und eigentlich alle Institutionen der Frage stellen, wie in ihnen exkludierende, rassistische, aus der Zeit und der Logik des Kolonialismus stammende Muster nachwirken und was dies für ihre Gegenwart bedeutet. Das Ziel der Inklusivität, die diskriminierungsfreie Ausrichtung findet abstrakt weithin Zustimmung. Wenn es gut läuft, werden hier und da Sonderprogramme aufgelegt, die aber teils bereits durch ihren “Sonder”-Status Ein- und Ausgrenzungen in Gestalt einer nun wohlwollenden Diskriminierung reproduzieren. Solange die Entscheidungs- und Steuerungshoheit bei tradierten Akteur:innen und ohne Hinterfragen der scheinbar selbstverständlichen Rahmenbedingungen verbleibt, führt dies nicht zu einer Anerkennung auf Augenhöhe. Man baut Brücken. Aber ist man dabei auch bereit, das Gegenüber als das zu akzeptieren, als das es sich zeigt?“ […] Wir werden die Gedächtniseinrichtungen nicht retrospektiv dekolonisieren können. Was wir aber als Aufgabe einer engagierten Bibliothekswissenschaft sehen, ist, die Bibliotheken als unsere Bezugsinstitutionen auf die Herausforderungen der Gegenwart hin zu reflektieren und Gestaltungsmöglichkeiten für eine Zukunft zu entwickeln, die sensibel, differenziert und entschieden eine integrative, grundierende, ausgleichende Rolle übernimmt.“

Folgende Fragen können in einem Beitrag für den 2. Schwerpunkt der Libreas-Ausgabe  als Anregung dienen:

1.) Wir suchen die Spuren von Kolonialismus und Rassismen, die sich bis heute in den Strukturen und der Arbeit von Bibliotheken erhalten und die sich möglicherweise in digitalen Wissens- und Kommunikationsstrukturen reproduzieren.

 

2.) Wir möchten erfahren, wer sich aus welchen Blickwinkeln mit Fragen der Dekolonisierung, der Diversifizierung, der Alterisierung in und von Bibliotheken befasst. Wir suchen Best-Practice-Beispiele für Inklusions- und Öffnungsprozesse.

 

3.) Wir wollen Handlungsoptionen (und Utopien) zur Frage diskutieren, wie die Ordnungsmechanismen von Machtdiskursen durchbrochen werden können und wie epistemische Gewalt in öffentlichen Einrichtungen thematisiert werden kann.

 

4.) Und schließlich möchten wir gern auch die genuine Perspektive der Bibliotheks- und Informationswissenschaft betrachten und fragen, wie informationsethische Modelle, Methoden und Theorien am Schnittpunkt zu postkolonialen Forschungsfragen anwendbar sind.

Inhaltlich gibt es kaum eine Beschränkung und die Form des Beitrags ist ebens nicht reglementiert (https://libreas.eu/authorguides/). Die Einreichungsfrist ist der 30. Juni 2021.  (Kontakt: redaktion@libreas.eu / https://twitter.com/libreas). Der Call for Papers kam im Rahmen eines Libreas-Projektsseminars im WS 20/21 zustande, an dem Barseghyan, Lina Feller, Katharina Foerster-Kuntze, Fatima Jonitz, Amber Kok und Valentina de Toledo mitarbeiteten.

Über die mangelnde Diversität in der Kinderbuchbranche

Im Blogbeitrag „Bücher gegen Rassismus für Kinder und Jugendliche“ vom 22.07.2020 wurde kritisch bemerkt, dass die Stiftung Lesen in Ihre Liste mit Empfehlungen zum Thema „Liste für Bücher gegen Rassismus“ keine Schwarzen Autor*innen aus dem deutschsprachigen Raum mit aufführte. Ein Artikel „Schwarze Kinder, weiße Perspektiven“ von Frau Chantal-Fleur Sandjon dem migrationspolitischen Portal der Heinrich-Böll-Stiftung ging nun vor etwa einem Monat der Frage nach wie divers die Kinderbuchbranche ist. Meine Feststellung, dass es kaum eine Förderung von Autor*innen gibt, die zur Gruppe der People of Color zählen, bestätigt sich in dem Artikel. Selbst in einem Land wie Großbritannien, kam eine Studie 2019 zu dem Ergebnis, dass weniger als 2 % der veröffentlichten Kinderbuchautor*innen und -illustrator*innen selbst Brit*innen of Color waren. In Deutschland gibt hierzu keine Zahlen, aber der Prozentanteil wird sicherlich ähnlich niedrig sein. Der Artikel benennt neben brititischen Autor*innen unter anderem auch die deutsch-marokkanische Illustratorin Jasmina El Bouamraoui (EL BOUM), die für das das finnische Goethe-Institut in Helsinki Illustrationen für Kinderliteratur gestaltet. Eine weitere Autorin, die hierzulande bekannt sein müsste, ist Andrea Karimé. Laut der Autorin des Artikels ist Karimé mit einer Ablehnung und einem Unverständnis von Seiten der Verlage konfrontiert.

Karimé kommt bezüglich der mangelnden Diversität in der Kinderbuchbranche zu folgendem Fazit:

„Das Interesse an Kinderbüchern mit Kindern of Color in der Hauptrolle unterliegt starken Wellenbewegungen. Nach Merkels ‚Wir schaffen das!‘ gab es plötzlich viele Bücher über Flucht, die meisten aber von weißen Autor*innen, die sich zuvor wenig mit der Thematik beschäftigt hatten, was den Büchern oft anzumerken ist. Auch jetzt ist die Entwicklung sehr ähnlich – Kinderbücher sollen diverser werden, die Menschen, die sie schreiben, aber nicht unbedingt. Von Forderungen, wie sie #ownvoices (1) stellt, sind wir in der deutschen Kinderbuchbranche noch weit entfernt.“

Die Verlegerin von Habte Books,  Fitsame Teferra, bemängelt zudem, dass es kaum billinguale Kinderbücher für unterpräsentierte Sprachen wie etwa Hausa oder Kiswahili gibt. Sie machte selbst die Erfahrung auf Ablehnung gestoßen zu sein bei deutschen Verlagen und gründete 2015 deshalb ihren eigenen Verlag mehrsprachiger Kinderbücher mit und in afrikanischen Sprachen. Die Professorin Maisha Auma forderte deshalb die Anerkennung die Barrieren, …

die „mit Marginalisierung aufgrund von Othering einhergehen, also mit der Platzierung im Verhältnis zur hergestellten Norm und dem Verdrängen an den Rand von Narrativen, Strukturen, Gesellschaften. Hierzu braucht es konkrete Verpflichtungen und einen konkreten Plan, wie diese Barrieren sukzessiv behoben werden können.“

Der Landesfachtag Schulbibliotheken 2020 in Schleswig Holstein findet am 21. November statt und befasst sich mit dem Thema „Interkulturelle Bibliotheksarbeit
in Schulbibliotheken“. Auf dieser Tagung wird unter anderem das Buch „The Hate U Give“ der US-amerikanischen Schriftstellerin Angie Thomas vorgestellt, das  2018 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Dieses Buch macht ebenso deutlich, dass hierzulande kaum Literatur produziert wird, welche sich mit der europäischen, insbesondere der Schwarzen Perspektive  im deutschen Raum auseinandersetzt. Es wäre wünschenswert, wenn Autor*innen gefördert würden und Preise erhielten, welche hierzulande Kinderbücher aus der Sicht von People of Color in Europa respektive Deutschland schreiben.

 

 

Bücher gegen Rassismus für Kinder und Jugendliche

Die Stiftung Lesen stellte vor wenigen Tagen eine Liste für Bücher gegen Rassismus ins Netz. Dabei handelt es sich in aller erster Linie um Bücher für Kinder und Jugendliche. Frau Prof. Wiesenmüller von der HdM Stuttgart wies am 17. Juli auf Twitter völlig zurecht darauf hin, dass die Kritik des Mitherausgebers der FAZ, Herrn Jörg Kaube, völlig wirr und und abgehoben ist:

„Ausgrenzung, Diskriminierung und Intoleranz – das kennen mitunter (leider) schon die Jüngsten. Bereits ab dem Kita-Alter und später auch in der Schule machen Kinder und Jugendliche Erfahrungen mit Rassismus, weil sie aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft oder Sprache ausgegrenzt und abgelehnt werden. Bücher können helfen, diese Probleme bewusst zu machen. Sie können uns miteinander ins Gespräch bringen, für das Thema sensibilisieren und bei der Suche nach Lösungsansätzen unterstützen. […] Die Möglichkeiten, die Bücher zur Auseinandersetzung mit Rassismus bieten, sind ebenso vielschichtig wie das Thema selbst. Mit unseren Empfehlungen möchten wir Erzieherinnen und Erzieher, Eltern und Lehrkräfte bei der Auswahl von Geschichten unterstützen. Christine Kranz

Der Liste würde ich noch folgende Bücher hinzufügen, die ebenso Rassismus thematisieren. Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit sind ebenso Teil von Rassismus. Diese drei Bücher kenne ich aus der Kindheit und Jugend eigener Familienmitglieder:

1.) Papa, was ist ein Fremder? (Gespräche mit meiner Tochter) von Tahar Ben Jelloun. Rowohlt Taschenbuch. ISBN: 978-3499211454. 112 Seiten

2.) Mama, was ist Auschwitz? von Annette Wieviorka. List Taschenbuch. ISBN: 978-3548600888. 92 Seiten

3.) Als Hitler das rosa Kaninchen stahl von Judith Kerr. Ravensburger Verlag GmbH. ISBN: 978-3473584291. 576 Seiten

Natürlich gibt es noch weitere Bücher, mir scheint aber, dass in Frankreich, Großbritannien und den USA mehr Literatur zu diesem Thema für diese Zielgruppe existiert. Die drei Beispiele von mir machen es deutlich, da die drei Autor*innen aus den eben genannten Ländern kommen. Warum ist das so? Falls meine Vermutung richtig ist, dann scheint das zumindest in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur noch wenig thematisiert worden zu sein, vor allem im Hinblick auf Rassismus gegen Schwarze, Geflüchtete und aus Asien stammende Menschen. Ein Blick in die Leseliste der Stiftung Lesen genügt und es wird deutlich, dass von den acht Lesetipps, die auch Bücher für Jugendliche ab 14 Jahren enthalten, die Hälfte aus Übersetzungen englischsprachiger Werke besteht. Auch die Autorin des ersten Werkes, Lisbeth Kaiser, ist eine US-Amerikanerin. Die Thematik Rassismus, wie sie etwa Hans-Jürgen Massaquoi oder Theodor Michael Wonja erlebten, taucht in der Leseliste nicht auf. Gibt es zu wenig Kinder- und Jugendbücher von und über Afrodeutsche oder Afroösterreicher*innen und Afroschweizer*innen? Zumindest vermitteln das die Empfehlungen der Stiftung Lesen. Die beiden genannten afrodeutschen Autoren schrieben ja eher Autobiographien für Erwachsene.

Hätte die Literaturliste der Stiftung Lesen anders, diverser und vielfältiger ausgesehen, wenn interkulturelle Bibliothekar*innen, Community-Bibliotheken wie zum Beispiel die von Each one – Teach One e.V. und Audream aus Berlin mit einbezogen worden wären? Ich bin schon dieser Meinung und dass auch Bibliotheken, aber auch die Stiftung Lesung sich Beratung und Recherche leisten sollten, wenn es um bestimmte Thematiken geht. Die Liste der Stiftung Lesen erzählt viel zu wenig Geschichten über Rassismus in Deutschland. Entweder ist das eine Leerstelle im Bezug auf Kinder- und Jugendliteratur oder man hat explizit eher Bestseller/Klassiker ausgesucht, die zur Hälfte aus dem Ausland stammen und sich dort gut verkauften. Es wäre durchaus wünschenswert, wenn die Stiftung Lesen Ihre Liste mit Empfehlungen überarbeitet und zum Beispiel mehr Schwarze Autor*innen aus dem deutschsprachigen Raum fördert und solche, die andere Geschichten über Rassismus erzählen und über Rassismus aus eigener Erfahrung aufgrund deren biographischer Herkünfte schreiben.

Im Blogeintrag „Bücher und Leselisten gegen Rassismus?“ vom 13.06.2020, den ich mit einem Fragezeichen versah, war ich zu Beginn des Artikels noch der Auffassung, dass die Wirkung von Leselisten, die durch Bibliotheken oder andere Einrichtungen zur Verfügung gestellt werden, eher wenig Wirkung erzielen wird. Am Ende sah ich dies etwas nüchterner und kam zu dem Entschluss, dass es zumindest einen Versuch wert ist. Dabei bezog ich mich nur auf Erwachsene. Deshalb werde ich demnächst versuchen eine eigene Leseliste für Erwachsene zu erstellen, welche mehr Sachbücher enthält.

[OT] Weichgespült, abgerundet, den sprachlichen Charme verloren…

Ich ärgere mich derzeit darüber, dass Kinderbücher derzeit regelrecht verstümmelt werden. An weichgespülte verdisneysierte amerikanische Märchenversionen hat man sich ja irgendwie schon gewöhnt, aber braucht man Kinderbuchklassiker wirklich „politisch korrekt“? Geht da nicht zu viel Charme verloren, wenn Kinder eine plattgedrückte, abgerundete Version in einer Einheitssprache zu lesen bekommen? Wo bleibt der sprachliche Lerneffekt, wenn man veraltete Begrifflichkeiten aus diesen Büchern klaut, anstatt zu erklären, was sie bedeuten, warum man sie vielleicht nicht mehr verwenden sollte und was stattdessen die bessere Variante wäre.

Jetzt vergreift man sich doch tatsächlich an Ottfried Preußlers „Die kleine Hexe“ weil Begriffe wie „Negerlein“ „Chinesenmädchen“ und „Zigeuner“ nicht mehr politisch en vogue sind und irgendjemand sich dadurch auf den Schlips getreten fühlt. Sorgen wir so nicht für eine Verarmung der Sprache und für den Verlust eines gesunden Sprachgefühls? Verlieren wir so nicht ein Stück Geschichte und Geschichtsbewusstsein, weil Änderungen in Einstellungen so verloren gehen?

Lesenswert dazu ist der Beitrag von Harald Eggebrecht in der Süddeutschen Zeitung: „Robinson Crusoes furchtbar korrekte Abenteuer

Ich weiß noch, wie sehr ich mich 2000 über die furchtbare neue Übersetzung Kreges vom „Herrn der Ringe“ aufgeregt habe, wo aus Frodo nicht mehr Herr sondern ein Chef wurde und auf die Ehrenbezeugende Ansprache „Ihr“ verzichtet wurde. Leider ist meine Ausgabe der Carroux-Übersetzung verloren gegangen. 🙁 Mag sein, dass diese inzwischen 40-Jahre alte Fassung nicht ganz dem Original entspricht und die neue Übersetzung eventuell näher herankommt, aber dennoch hat die alte Version meiner Meinung nach einen viel größeren Charme. Die mögliche „Fremdheit“ macht meiner Meinung nach nochmal viel deutlicher, in was für einer fantastischen Welt man sich bewegt.

Ist eigentlich dies auch ein Problem für BibliothekarInnen in öffentlichen Bibliotheken, weil sie darauf achten sollten, ihre Bestände politisch korrekt zu halten? Müssen alte Versionen ausgesondert werden? Dürfen nur noch die neuen Versionen angeschafft werden? Lässt sich so eine gewachsene Kultur überhaupt noch vermitteln und erleben? Müssen demnächst dann „Anglizismen“ in Kinderbücher eingebaut werden, damit sie überhaupt noch verständlich für die Kinder sind? Ist das Anpassen vielleicht nicht nur eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, angestoßen durch überempfindliche Erwachsene?

Ich verstehe, dass wir eine kritische Auseinandersetzung mit Begriffen benötigen, die aus heutiger Sicht nicht mehr als politisch korrekt anzusehen sind, aber dies sollte auch immer im Kontext der Entstehungszeit eines Werkes passieren. Und ist es wirklich notwendig, Bücher einem sprachlichen und politischen Wandel anzupassen oder ist es nicht besser, im Vorwort fundierte Hinweise auf die Probleme zu geben und z.B. bei Büchern, die vorgelesen werden, alternative Begrifflichkeiten anzubieten? Wir fangen ja auch nicht an, lateinische Inschriften an Gebäuden zu entfernen und in Deutsch zu übersetzen, nur weil kein Mensch sie mehr versteht. Es kommt doch auch keiner ernsthaft auf die Idee Goethe, Gerhard Hauptmann oder Walther von der Vogelweide in ein „modernes Sprachkorsett“ zu zwängen, oder? Wo fängt gesunder Menschenverstand an und ab wann sind Bücher einfach als nicht mehr „verkehrstauglich“ zu bezeichnen? Geht es vielleicht auch oftmals nur noch darum, „Klassiker“ als „neu und besser“ zu vermarkten?