Meine persönliche Rückschau auf den BID-Kongress 2013 (Teil 4)

Diesmal habe ich mir auch die vielen Posterpräsentationen angesehen und es gibt zum Beispiel auf der Internetseite von EIGE (European Institute for Gender Equality) nun europaweite Ressourcen zur geschlechtsspezifischen Gewalt, auch gegen Männer, wie Frau Dr. Karin Aleksander  mir gegenüber betonte. Doch ist Spiralcurriculum nicht schon seit Jahren in Nordrhein-Westfalen, Hamdburg und anderswo ein etablierter Standard zur Kooperation mit Schulen und Bibliotheken, um Medien- und Informationskompetenz zu fördern? Auch hierzu gab es ein Poster über Leipziger Kooperationen zwischen Schulen und Stadtbibliotheken und deren Kooperationsweisen in der Vermittlung von Medienkompetenz und Leseförderung. Leider habe ich das Poster zum Thema „Train the Trainer: Motivation, Selbstreflexion und fachliche Kompetenz von Student Advisors bei der Vermittlung von Informationskompetenz“ nicht gesehen oder übersehen, was von Michaela Zemanek von der UB Wien stammte. Dabei ging es um folgende Fragen: „Was müssen Studierende, die andere Studierende in Informationskompetenz unterweisen sollen, können? Über welche Kenntnisse und Soft Skills sollen sie verfügen? Was hilft ihnen, ihre eigene Kompetenz richtig einzuschätzen? Wie kann ihre Motivation gesteigert werden? Welche neuen Lehr- und Lernformen sind dafür geeignet?“

Am Nachmittag fand die öffentliche Arbeitssitzung des Arbeitskreises Kritische Bibliothek statt, die ich zum ersten Mal besuchte. Es sprach Peter Jobmann, der den ganzen Vortrag übernahm, den er sich ursprünglich mit Gerhard Zschau teilen wollte. Beide haben ein zusätzliches Fernstudium Demokratiepädagogik an der Freien Universität Berlin bald abgeschlossen und gemeinsam eine Abschlussarbeit zum Thema „Demokratiepädagogik und Bibliotheksentwicklung“ verfasst, welche die arg bestandorientierte Sichtweisen und Herangehensweisen in öffentlichen Bibliotheken kritisierte.

Ein weiterer Aspekt war die kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff des Kunden, der deutlich machte, dass es hierzu keinen funktionalen Problembezug und keine wissenschaftliche Auseinandersetzung zu dessen Verwendung im bibliothekarischen Berufsfeld gibt. Jobmann machte die Machtasymmetrien deutlich und prangerte den semantischen Mißbrauch hierzu an. Den die Auftragsformen Markttausch, Vertragsbezeichnung und bürokratische Subordination sind Indizien dieser Asymmetrie. Er plädierte für eine berufsstandsweite Rollendiskussion und untersuchte in einem nächsten Schritt den Begriff des Leitbilds und deren Verwendung in Bibliotheken, sowie deren Implikationen. Dabei wurden 6 Typen von Leitbildern unterschieden: implizite, explizierte, propagierte (z.B. Ideen mit Leitbildpotenzial), explizite und oktroyierte Leitbilder.

Der „Code of Ethics“ vom BID (BID e.V.) wurde vom Referenten als okrtoyiert eingestuft, da das Leitbild als fremdgesetzt bewertet wurde. Demokratiepädagogisch betrachtet müssten z.B. Leitbilder 3 Dimensionen erfüllen, um wirklich als impliziert und expliziert bezeichnet werden zu können: 1. Die Erscheinungsform: mental und manifest, 2. Handlungswirksamkeit = zukunftsbezüglich, verinnerlicht, denk- und handlungsanleitend und 3. von den Vertretern selbst getragen. Bin ich automatisch Mitglied bei BID e.V., wenn ich Mitglied im Berufsverband BiB bin? Wie auch immer, wie lässt sich ein von (allen) Mitgliedern aller Bibliotheks- und Informationsverbände getragener „Code of Ethics“ denn durchsetzen? Durch Liquid Democracy? Beispiele aus anderen Ländern bzw. anderen Bibliothekwesen im internationalen Vergleich, wo Entscheidungen und Willsensbildungsprozesse auf bibliothekarischer Ebene demokratiepädagogisch durchgesetzt wurden und werden, wären sehr interessant und wichtig gewesen, um dnoch deutlicher zu machen, wie wichtig die Demokratiesierung von Bibliotheken, Berufsverbänden und dem Berufsstand im Allgemeinen wäre.

In einem vorletzten Kapitel seines Vortrags ging Jobmann auf Musik in öffentlichen Bibliotheken im Speziellen ein. Mir war zwar bekannt, dass öffentliche Bibliotheken Musik des Labels Aggro Berlin anschaffen, das frauenfeindliche und sexistische Texte enthält, aber neonazistische Musik war mir neu. Die Methode Standing Order wurde hier  teilweise kritisiert. Auch die zurecht in der Kritik stehende Musikgruppe Frei.Wild (Rechtsrock) und die Anschaffung von Musik nach dem Motto, weil es der „Kunde so will“, wurde hierbei angeprangert. Jobmann plädiert für den Aufbau von Medienkompetenz bei Bibliothekaren und Bibliothekarinnen, was laut ihm eine Leerstelle in der bibliothekarischen Aus- und Weiterbildung darstellt. Meines Erachtens ist unser Rollenverständnis durchaus in Gefahr, wenn wir Medien gleich welcher Art anschaffen, aber dem „Kunden“ nicht medienkompetent genug machen und jeden Wunsch erfüllen. Der Referent sprach sich auch für Veranstaltungen in öffentlichen Bibliotheken aus, in denen über Musikalien wie Labels wie Aggro Berlin und anderen Medien über Gefahren und deren Inhalt kritisch aufgeklärt wird. Sein Credo war das einer dialogischen Bestands- und Bibliotheksentwicklung, als nur ungefragt und unreflektiert gewünschten Content für den „Kunden“ zur Verfügung zu stellen. Das Publikum gab ihm größtenteils Recht. Besonders gefiel mir das Statement einer Bibliothekarin, die wie ein Gedicht das Rollenverständnis von vielen BibliothekarInenn satirisch deutlich machte:

„Ein Leser liest, ein Nutzer nutzt, ein Bibliothekar betreut eine Bibliothek. Ist diese krank?“

Prof. Dr. Rösch kritisierte die Novolatrie im Bibliothekswesen, die Alles Neue sofort für gut befindet und ständig Neues als gut und Altes als per se schlecht einordnet. Dabei machte er deutlich, dass nach seiner Meinung die Bestandorientiertung in deutschen Bibliotheken immer noch von einem obrigkeitsstaalichen Handeln geprägt ist. Statt nur Ausleihen und die Mediennzutung zu messen und zu beurteilen, galt sein Plädoyer den Bildungsprozessen, die durch Bibliotheken angeregt werden und im Lernort Bibliothek mit verschiedenen Lehrarrangement stattfinden. Wie können Unterhaltsträger diesen Mehrwert erkennen? Er lobte ausdrücklich den Vortrag, sprach sich gegen die „marktkonforme“ Bibliothek aus und appellierte an die Bibliothekswelt mehr Transparenz bei Entscheidungsprozessen zu schaffen und mehr Diskurse zu organisieren. Shaked Spier verlangte vom Berufsstand mehr in die Offensive zu gehen, als in Deckung und seine Rolle und sein Verständnis des Berufs besser nach außen zu kommunizieren und deutlicher zu machen, was unsere Aufgaben und unser Wert ist.

Ein letzter Votrag des Tages, welchen ich noch besuchte, handelte vom E-Day an der Staatsbibliothek zu Berlin, der phonetisch betrachtet eine Ähnlichkeit mit dem D-Day von 1944 hat. Dabei handelt es ich bei Ersterem um einen Thementag zu elektronischen Ressourcen. So wurde ein erster E-Day 2011 von 800 Menschen besucht.

Zu guter letzt ein Schlussplädoyer, das wohl von Peter Jobmann oder Gerhard Zschau stammt. Beide könnten zusammen als die Willy Brandts des deutschen Bibliothekswesens bezeichnet werden, da sie legitimerweise „Mehr Demokratie wagen“ fordern, was wohl das Credo von Brandt war. Heute scheint dies dringender und nötiger denn je. Im Europäischen Jahr der Bürger und Bürgerinnen (2013), in dem Vereine wie „Mehr Demokratie e.V.“ großen Zulauf  und Zuspruch finden und Volksentscheide und -begehren mehr und mehr von Menschen in Deutschland eingefordert werden, greifen die beiden ein Thema auf, dass auch im Unternehmenskontext zunehmend Machtstrukturen verändert werden. Doch Demokratie macht Arbeit und Innovation entsteht wohl leichter durch demokratische als durch autokratische Strukturen, oder?

Ich will weg vom Verwaltungsbibliothekswesen. Ja – dieser Teil wird den Weg gehen, den Gunter Dueck beschreibt: unterbezahlt und in Masseneinrichtung organisiert. Der einzige Weg in die Zukunft führt Bibliotheken über demokratische Wege. Bisher sind wir grenzwertig “unterprofessionell”. Wir haben fast keine Ahnung von Medienpädagogik, obwohl wir täglich Medien hin und her reichen und wir haben keine Ahnung ob unsere Leseförderung funktioniert, obwohl wir uns damit legitimieren. Wir wissen auch nicht, wie wir eigentlich die Verteidigung gegen unmenschliche (fängt bei Alltagsrassismus an) Inhalte organisieren, so wir denn überhaupt wollen (wo wir ja so neutral sind).

Aus aktuellem Anlass: Der offene Umgang mit sexueller Identität am Beispiel der Stadtbibliothek in Salt Lake City

„The greatest disservice you can do a people, is to pretend they don’t exist.“

Jacqueline Goldthorp

Nachdem ich im letzten Jahr in einer Stadtbibliothek Zeuge einer rassistischen Beleidigung gegenüber zwei kopftuchtragenden Schülerinnen wurde, bin ich der festen Überzeugung, dass öffentliche Bibliotheken, die ja ebenso Teil des öffentlichen Raumes sind wie ein Marktplatz oder ein Stadtpark, nicht per se diskriminierungsfreie Orte sind, nur weil es dort mehr belesenere Menschen gibt als beispielsweise in Fußballstadien. In Großbritannien gab es hierzu schon Mystery-Shopping-Aktionen durch NutzerInnen  mit schwarzer Hautfarbe. Die Ergebnisse bzw. Reaktionen von seitens der BibliothekarInnen und NutzerInnen waren besonders dort von Mißtrauen und gewissen Ängsten vor dem vermeintlich Fremden geprägt, wo die sogenannten „Mehrheitsgesellschaft“ aus Ur-Briten bestand, die ja bekanntlich der Gruppe der WASP (White Anglo-Saxon Protestants) zuzurechnen sind. Wie sollen BibliothekarInnen reagieren, wenn sie Zeuge rassistischer Äußerungen von seitens der NutzerInnen gegenüber anderen NutzerInnen werden? Welche öffentlichen Bibliotheken haben bei Nutzerbefragungen darauf geachtet, ob sie Fragen verwendeten, die Aufschluss darüber geben, ob KundInnen oder NutzerInnen jemals in ihrer Einrichtung diskriminiert wurden oder Zeuge von diskriminierenden Handlungen und Aussagen wurden? Kundenorientierung ist das eine, aber was fühlt ein „Kunde“, der in ebendieser Einrichtung schon einmal rassistisch beleidigt wurde? Wird er diese Einrichtung wieder gerne aufsuchen oder sie in Zukunft eher meiden? Ist nicht davon auszugehen, dass er wieder auf ähnliche Menschentypen trifft? Gibt es hierfür bereits Erfahrungen und Hinweise, die anderen hilfreich sein können, wenn sie mit dieser Problematik konfrontiert werden? Der Code of Ethics und Benutzerordnungen diverser Bibliotheken geben darüber noch keine Auskunft. Es gibt noch zu wenig Schutz für Menschen, die beim Besuch einer Bibliothek derartig angegangen werden.  Wenn ich von Diskriminierung schreibe, dann meine ich auch Homophobie. Bis dato gibt es trotz zahlreicher Initiativen unterschiedlicher politischer Parteien und Interessenverbände keinen Antidiskriminierungsschutz aufgrund der sexuellen Identität. Seit einigen Jahren gibt es an vielen Türen öffentlicher Einrichtungen (auch auf Bibliothekstüren) Aufkleber, die auf das Aussteigerprogramm für Neonazis Exit hinweisen, aber es gibt noch kaum oder zu wenig Hinweise für Menschen, die diskriminiert und rassistisch beleidigt werden. Eigentlich wären öffentliche Bibliotheken ideale Orte, um dieses Thema stärker auf die Agenda zu bringen und nicht nur einfach Infomaterial auszulegen.  Anläßlich des Internationalen Tags gegen Homophobie ist das nun folgende Video meines Erachtens ein mutiges und aussergewöhnliches Beispiel dafür, wie MitarbeiterInnen einer Bibliothek offen zu ihrer sexuellen Identität stehen und darüber berichten, wie schwer es in der Kindheit war von anderen gedemütigt zu werden und wie sie es schafften heute zu ihrer sexuellen Identität zu stehen.  Für viele mag das sicher eine Mutmachervideo sein und Utah zählt mit Sicherheit nicht zu den liberalsten US-Bundesstaaten. Es kommen auch MitarbeiterInnen zu Wort, die nicht der LGBT-Community angehören. Bereits am 23. Mai 2010 hatte ich über den Blogeintrag “Représentations de l’homosexualité dans les bibliothèques municipales françaises” und Beispiele aus Großbritannien, als auch aus Schweden darüber berichtet und hätte mich damals auf eine Debatte zu diesem Thema gefreut. Neben dem Zentralrat der Muslime in Deutschland setzen sich unterschiedliche Parteien in Deutschland dafür ein, dass im Grundgesetzartikel 3 neben dem Verbot der Diskriminierung aufgrund der Merkmale Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöse oder politische Anschauungen sowie Behinderung, das Merkmal „sexuelle Identität“ hinzugefügt werden.