Dies ist eine redaktionell bearbeitete Arbeitsfassung des Textes von Daniela Hoffmann, Andrea Nikolaizig, Helag Tecklenburg und Martina Werder, welcher unter dem Titel “Zum Aussagewert der Studie ‘Ursachen und Gründe für die Nichtnutzung von Bibliotheken in Deutschland’ / Eine kritische Betrachtung” in der BuB 65(2013)04, S. 296-299 erschienen ist, aber noch nicht online zu lesen ist. Diesen Beitrag veröffentliche ich hier auf Anregung von Herr Philipp Maass und mit Genehmigung durch Frau Nikolaizig.
Der Text soll auch jenen als Diskussiongrundlage zur Verfügung stehen, die die aktuelle BuB nicht beziehen, um so aktiv in die Diskussion um diese Studie und die vorgebrachte Kritik einsteigen zu können.
Eine Zusammenfassung der Diskussion wurde zeitgleich auf Bibliothekarisch.de veröffentlicht.
Wissen wir tatsächlich mehr?
Zum Aussagewert der Studie „Ursachen und Gründe für die Nichtnutzung von Bibliotheken in Deutschland“
Im April 2012 veröffentlichten der Deutsche Bibliotheksverband (DBV) und die Stiftung Lesen begleitet mit intensiver Pressearbeit die Ergebnisse der repräsentativen Telefonbefragung „Ursachen und Gründe für die Nichtnutzung von Bibliotheken in Deutschland“. Aus der Perspektive von Lehre und Studium eine komfortable Situation, denn so konnten Studierende im Modul Bibliotheksmarketing am Studiengang Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK) an einem aktuellen fachspezifischen Beispiel die zuvor im Modul Methoden der Bibliotheks- und Informationswissenschaft, Schwerpunkt empirische Untersuchungen angeeigneten Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten anwenden. Die Studierenden sollten im Seminar das Untersuchungsdesign einschließlich Fragebogen sowie die Ergebnisse der Studie einschließlich Interpretation reflektieren. Von den Erkenntnissen der ausführlichen und differenzierten Beschäftigung mit den Untersuchungsmaterialen Chartberichte Langfassung und Anhang sowie dem Interviewleitfaden waren alle Beteiligten sehr überrascht. Die Autorinnen des Aufsatzes, zwei Studierende und zwei Lehrende, entschlossen sich deshalb, der Fachöffentlichkeit mit diesem Beitrag ausgewählte Erkenntnisse über die Aussagequalität der inzwischen vielzitierten Studie mitzuteilen.
Nutzer und Nichtnutzer
Liest man den Untertitel der Studie, stellt sich als erste Frage die nach der oberen Altersbegrenzung der Probanden bei 75 Jahren: War das Untersuchungsdesign tatsächlich altersausschließend angelegt oder war die /der älteste Befragte diesen Alters? Die zweite Frage ist eine terminologische: Unter Zuweisung eindeutiger Merkmale unterscheidet die bibliothekarische Fachwelt Benutzer und Besuche(r). Die Studie arbeitet jedoch mit den Begriffen „Nutzer und Nichtnutzer“, ohne diese eindeutig zu klären. Wurde das Begriffspaar als übergeordnete Begriffskategorie für die Summe der Besucher und Benutzer eingeführt? Die nachzulesenden Definitionen bergen mit ihren unterschiedlichen Beschreibungsmerkmalen Widersprüche. „Nutzer“ sind laut Studie Besucher und /oder Benutzer, die einmal in den letzten zwölf Monaten physisch vor Ort waren oder Benutzer (Besucher), die in den letzten zwölf Monaten Bibliotheksdienste persönlich in Anspruch genommen haben. „Ehemalige Nutzer“ sind hingegen Besucher und /oder Benutzer, die vor über einem Jahr einmal physisch vor Ort waren ohne das Merkmal Inanspruchnahme von Dienstleistungen. Obwohl zwei grundsätzlich verschiedene Fragen gestellt werden, reduziert die Auswertung des „Nutzer-/ Nichtnutzer-/ ehemalige Nutzer-verhaltens“ ausschließlich auf das Merkmal in den „letzten 12 Monaten, davor oder noch nie in einer öffentlichen Stadtbibliothek oder Gemeindebücherei gewesen zu sein“.
Was hier wie kleinliche Diskussion anmutet, ist der Anspruch an fachliche Präzision, denn uneindeutige Definitionen oder fachfremde Begriffe beleben die Gefahr der Fehlinterpretation, mindern die Qualität der Ergebnisse und verstellen die Möglichkeit eines Vergleichs mit ähnlichen Studien.
Repräsentativität
Wie viele Probanden wurden tatsächlich befragt? 1.301 wie auf der Titelseite des Chartberichtes und im Untersuchungsdesign oder 1.300 wie in der Pressemitteilung des DBV zu lesen?
Die postulierte Repräsentativität im Sinne einer verkleinerten Abbildung der gesamten Bevölkerung Deutschlands, vermutlich mittels Quotenauswahlverfahren, von 1.301 Befragten ist anzuzweifeln.
Die Stichprobe dürfte lediglich bei jeweils separater Betrachtung der Merkmale Geschlecht, Alter, Bildung, Konfession, Migrationshintergrund und Einwohneranzahl der Heimatgemeinde näherungsweise ein verkleinertes Abbild der Gesamtbevölkerung liefern. Da die genannten Merkmale voneinander abhängig sind, ist auf dieser Basis die mit dem Begriff „repräsentativ“ suggerierte Verallgemeinerungsfähigkeit der erzielten Ergebnisse nicht gegeben.
Des Weiteren sollte bei zu geringer Probandenanzahl einer Teilgesamtheit auf deren detaillierte statistische Auswertung verzichtet werden. Insbesondere sind separate Auswertungen zu den (Nicht-)Nutzertypen Wechsler (64 Probanden) und Stadt/-Gemeindebibliotheksferne (39 Probanden) höchst fragwürdig. Brisant wird es, wenn aus den Antworten von 51 Probanden sogar Handlungsempfehlungen „zur (Wieder-)Gewinnung von 14 bis 19-Jährigen Nichtnutzern“ abgeleitet werden.
Eigene Nachrechnungen ergaben zudem, dass die Antworten von lediglich 1.280 Probanden in die Auswertung einbezogen wurden, nicht die von 1.301 Befragten. Rundungsungenauigkeiten insbesondere auf den Folien 27 bis 31 des Chartberichtes führen zu merkwürdigen Ergebnissen; Beispiel Auswertung der Frage „Assoziationen mit öffentlichen Stadtbibliotheken und Gemeindebüchereien“: Es ist augenscheinlich, dass u.a. 50 und 51 Prozent, 43 und 56 Prozent oder 54 und 48 Prozent jeweils keine 100 Prozent ergeben.
Für die Darstellung der Ergebnisse wurden Stapelbalken-Diagramme verwendet, die als Summe zwischen 98 Prozent und 101 Prozent ausweisen. Ist erstere Zahl auf fehlerhafte Berechnung, korrekterweise 1280 statt 1301 Probanden bei Herausnahme der Probanden, die zum Merkmal Nutzertyp keine Angabe gemacht haben, oder auf fehlende Prüfung der Nachkommastellen zurückzuführen?
Im Kontext der Ungenauigkeiten ist wohl die unzulässige Überschneidung der zwei Altersgruppen der zwischen 14 – 29Jährigen bei 20 Jahren in der Strukturdarstellung der Stichprobe nur als Schreib- und nicht als methodischer Fehler zu werten.
Fragen und Antworten
Die zu stellenden Fragen einer empirischen Datenerhebung werden aus ihren Zielen entwickelt, ihre Qualität sichert den Aussagewert der Untersuchung. So muss sich die Fragequalität der „Nichtnutzerstudie“ am definierten Ziel messen lassen:
„… die vorliegende Studie (liefert) detaillierte, empirisch fundierte und flächendeckende Erkenntnisse über die Gruppe der Nichtnutzer und deren Gründe für die Nichtnutzung von öffentlichen Stadtbibliotheken und Gemeindebüchereien.
Die Studie analysiert und segmentiert die Gruppe der Nichtnutzer und bildet damit die Grundlage für eine zielgruppenspezifische Ansprache der Nichtnutzer. Die vorliegende Untersuchung gibt Hinweise darauf, welche Maßnahmen der Neu- und Wiedergewinnung von Bibliothekskunden für welche Nichtnutzer-Typen erfolgsversprechend erscheinen und praktisch erprobt werden sollten, wie Kommunikationskonzepte aufgebaut sein müssen und Kampagnen geplant werden müssen.“
In den Telefoninterviews stellte man den Nutzern maximal 40 Fragen, den ehemaligen Nutzern und den Nichtnutzern maximal 56 Fragen, wovon jeweils 14 Fragen solche zur Person waren. Es wurde u.a. mit verschiedenen Fragetypen von Imagebefragungen gearbeitet, z.B. dem Semantisches Differenzial, mit Bewertungsfragen und Analogienbildung. Mit Ausnahme von drei offenen Fragen wurden Probanden Antwortmöglichkeiten zur Auswahl vorgetragen, die zwangsläufig ein definiertes Bild von Bibliotheken vorgeben. Es ist festzustellen, dass die Antwortvorgaben manchmal unausgewogen im Sinne von sich überschneidenden Klassen sind, eine bestands- und ortbezogene Sicht auf Bibliothek präferieren, stereotype Klischees bedienen und Nichtnutzer über Dinge urteilen lassen, die diese nicht kennen können. Dazu wenige, jedoch gravierende Belege:
Das Semantische Differenzial stellt Begriffspaare gegenüber, die mit ihren Extremen ein Bild Öffentlicher Bibliotheken vordefinieren. Es besteht die Gefahr, dass die Befragten beeinflusst werden und sich ein zu erwartendes, stereotypes Bild der Nichtnutzung in den Ergebnissen der Studie niederschlägt. Befragte tendieren zwangläufig zum Positiveren, weil negative Extreme aufgemacht werden, die wohl jeder Erfahrung entbehren.
Nichtnutzern werden telefonisch 27 (!) mögliche Gründe für ihre Nichtnutzung vorgelesen, die sie mit einer aus fünf Kategorien bezüglich des Zutreffens bewerten sollen. Wie glaubhaft und wie zielführend sind Beurteilungen von Menschen, die noch nie in einer Bibliothek waren, über solche, noch dazu suggestiven Qualitäten wie für u.a. diese: Das Angebot der Bibliothek ist veraltet. Die Medien, die mich interessieren, sind nicht vorhanden. Die Räumlichkeiten sind unattraktiv. Ich habe mit der Bibliothek schlechte Erfahrungen gemacht. Die Mitarbeiter/innen in der Bibliothek wissen nicht richtig Bescheid. Die Mitarbeiter/innen in der Bibliothek sind unfreundlich. Der Zustand der Bücher und Medien ist schlecht.
Es wurde auch eine offene Frage zur Nichtnutzung gestellt, deren Auswertung vermutlich von Aussagewert wäre, ihre Auswertung wurde leider nicht veröffentlicht.
Die Fragen zu Gründen der Nichtnutzung erweisen sich als oberflächlich. Sie bieten nicht das Instrumentarium, um Strategien für Kundenneugewinnung und den Aufbau von Kommunikationskonzepten zu entwickeln. Nichtnutzer werden nicht wirklich nach ihren Informations- und Kommunikationspräferenzen gefragt.
Interpretation
Einige Auswertungen und Interpretationen lösen Verwunderung aus. Frage 7 („Jetzt hab ich mal eine ganz andere Frage. Welche Farbe kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an eine öffentliche Stadtbibliothek oder eine Gemeindebücherei denken?“) ist eine spontan-assoziative Frage, wie sie im Zusammenhang mit Milieuermittlungen gern gestellt wird. Die Farbnennung kann sehr unterschiedliche Gründe aus den Gefühls- und Erfahrungswelten von Menschen haben.
In diesem Kontext versteht man zunächst die Hervorhebungen der Farben Grau, Braun und Gelb im Chartbericht nicht. Auf den zweiten Blick wird klar, dass die Interpretation die scheinbar negativen Farbassoziationen methodisch falsch auf räumliche Farbeindrücke reduziert verbunden mit der Handlungsempfehlung, Bibliotheken müssten eine helle Raumanmutung haben. Diese Interpretation lässt die Fragestellung gar nicht zu. Untersuchungen für verkaufspsychologische Konzepte sprechen zudem eine andere Farbsprache, sie zeigen, dass sich die Assoziation „sicher, behaglich“, die generell für Verkaufsumfelder als geeignet empfohlen wird, nicht nur mit der Farbe Blau, sondern auch mit Grün und Braun erreicht werden kann. Das könnte so doch auch für Bibliothekskunden gelten. Die Farbfrage beantworten im Übrigen 103 (!) Prozent „ehemalige Nutzer“, 103 (!) Prozent „Nichtnutzer“, der Anteil der Nutzer / Sonstiges ist nicht genannt .
In einigen Grafiken werden Sachverhalte, die man für prägnant oder dominierend hält, optisch besonders hervorgehoben. Die Auswertung des Semantischen Differenzials über gefühlte Assoziationen zeigt ein zahlenmäßig beinahe ausgeglichenes Verhältnis positiver und negativer Eindrücke an. Jedoch wurden bei „ehemaligen Nutzern“ und „Nichtnutzern“ Zahlen hervorgehoben, die das Bild suggerieren, diese Gruppen verbinden eher negative Eindrücke mit Bibliotheken. Wünschenswert wäre eine aussagekräftige Analyse mittels Kontingenzkoeffizienten.
Handlungsvorschläge
Ein großer Teil der Dokumentation beschäftigt sich mit Handlungsrelevanzen, die alle aus der Befragung abgeleitet und daraus begründet werden wollen. Viele davon gehen nicht über bereits bekannte Vorschläge und Empfehlungen wie z. B. Bibliotheken ´93 hinaus bzw. fassen Diskussionen in der Fachwelt zusammen. Einige stehen unter dem Motto „Von allem mehr“: Mehr Computer / W-LAN; Mehr Musik auf CDs, DVDs; Mehr Filme auf DVDs mit hoher Handlungsrelevanz. Woher wissen Nichtnutzer, dass es in den Bibliotheken diese Angebote und davon zu wenig gibt?
Widersprüchliches Empfinden rührt sich beim Lesen der „präventiven Maßnahmen“ zur Bibliothekssozialisation. Die Studie setzt ihren Schwerpunkt bei der Ansprache von 14- bis 19-Jährige Nichtnutzer auf elektronische Angebote. Damit tritt der physische Ort der Benutzung in den Hintergrund. Es stellt sich die Frage, inwiefern diese „zukunftsweisende“ Zielgruppe als Elterngeneration befähigt sein wird, das Leistungsspektrum Öffentlicher Bibliotheken für Freizeit, Kultur, Bildung an die Folgegeneration weitergeben zu können.
Ganz unstrittig zu teilen ist die Empfehlung, dass man immer daran arbeiten kann, die Realsituation (zu) verbessern (wo notwendig) und „auch weiterhin ein professionelles Marketing für die vielfältigen Angebote unserer modernen Öffentlichen Bibliotheken [notwendig] ist“. Das wissen die Kolleginnen und Kollegen in den Bibliotheken, die ihre elektronischen Angebote erweitern, Öffnungszeiten ausdehnen und modernste Technik vorhalten wollen. Sie wissen nur nicht wie, weil sie gleichzeitig z.B. mit Haushaltskonsolidierungen beschäftigt sind oder als gestandene Einzelkämpfer keine Ressourcen zur Weiterbildung haben.
In der Tat wäre ein belastbares Material eine gute Grundlage für die Diskussion mit politischen Entscheidungsträgern. Nur liefert die Studie aufgrund der ungestellten Fragen und ihrer handwerklichen Ungenauigkeiten bedauerlicherweise kein „zitierfähiges Zahlenmaterial, das für eine überzeugende politische Argumentation auch auf lokaler Ebene unabdingbar ist“.
Dass die Argumentation mit einer geringen durchschnittlichen Marktdurchdringungsrate von 29 Prozent verbunden mit der Forderung nach „Mehr“ gegenüber politischen Entscheidungsträgern auf lokaler Ebene überzeugend sein könnte, erschließt sich nicht, diese könnte sogar eher kontraproduktiv sein.
Autorinnen
Daniela Hoffmann und Martina Werder
Studentinnen im 3. Fachsemester Bibliotheks- und Informationswissenschaft an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig
mwerder [at] yahoo.de
Prof. Dr. phil. Andrea Nikolaizig
Lehrverantwortliche für die Module „Bibliotheksmarketing“ und „Methoden der Bibliotheks- und Informationswissenschaft“ an der Fakultät Medien der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig
nikolaiz [at] fbm.htwk-leipzig.de
Prof. Dr. rer. nat. habil. Helga Tecklenburg
Lehrverantwortliche für den Teil „Beschreibende Statistik“ im Modul „Methoden der Bibliotheks- und Informationswissenschaft“
Fakultät Informatik, Mathematik, Naturwissenschaften an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig
tecklenb [at] imn.htwk-leipzig.de
Anschrift alle
Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig
Fakultät Medien, Prof. Nikolaizig
Postfach 30 11 66
04251 Leipzig